Zwei Interessante Artikel zum Thema Heysel und dem Duell Juve-Liverpool 20 Jahre danach von je einem Italien- und einem England-Kenner aus der heutigen Sonntagszeitung (ACHTUNG @HJ: langes Posting!
Das Ende des Verdrängens
Liverpool gegen Juventus. 20 Jahre nach dem Drama im Brüsseler Heysel- Stadion mit 39 Toten treffen die beiden Mannschaften am Dienstag in der Champions League erstmals wieder aufeinander
VON OLIVER MEILER (Italien-Korrespondent des «Tages-Anzeigers»)
Brüssel , 29. Mai 1985. Es war ein warmer Vorsommertag. Auf der Affiche des alten und baufälligen Heysel- Stadions prangte ein Fussballfest, ein Spiel zwischen zwei Granden des europäischen Vereinsfussballs: Juventus gegen Liverpool, Final im Meistercup. Die schwüle Hitze drückte. Im Zentrum Brüssels hatte es schon unschöne Szenen gegeben, die Fans der Reds aus England tranken sich voll, schmissen Schaufenster ein. Dann füllte sich das Stadion. Auch der Sektor Z, der ominöse, dem sie danach den Namen ändern sollten, mehrmals, bis sie, Jahre später, das Stadion ganz abrissen. Im Sektor Z sollten nur Belgier sitzen. Sie, die neutralen Zuschauer, sollten die gegnerischen Fanblöcke trennen. Wie ein Kissen. So wars vorgesehen.
Doch ein paar hundert Tickets von Sektor Z waren am Schwarzmarkt auch an Tifosi der Weiss- Schwarzen aus Turin gegangen, vor allem an Familien, keine Ultras. Und so standen sie plötzlich nahe beim Gitter zum Block der englischen Hooligans. Die ersten Gegenstände flogen übers Gitter: Steine, Eisenstangen. Hinter der Kurve der Hooligans hatte es eine offene Baustelle. Da holten sie sich ihre Wurfgeschosse.
19.24 Uhr. Hunderte Hooligans, alle ohne Tickets, überrannten die Zugangskontrollen und strömten in den bereits übervollen Sektor Z. Sie drückten, sie schlugen. Panik brach aus, eine Fluchtbewegung setzte ein. Drängen, Stossen. Die ersten Toten, zerdrückt oder zertrampelt von der nachrückenden Masse, erstickt. Die Gittertore nach draussen blieben zu, die wenigen Polizisten waren überfordert. Dann brach auf der linken Tribünenseite eine Mauer ein, so gross war der Druck. Und vorne gegen den Rasen hin wurden Körper gegen das Gitter gedrückt – bis der Zaun nachgab.
Alles vor laufenden Kameras. Leblose Körper am Boden, Verletzte auf dem Rasen. Es brauchte eine Weile, bis sich das Ausmass der Tragödie ausmachen liess. 39 Tote, fast alles Italiener. Vor dem Stadion fuhr die Limousine mit Gianni Agnelli vor, dem Patron von Fiat und Juventus. Als Agnelli von den Vorfällen hörte, kehrte er gleich wieder um. Das wollte er nicht sehen, das passte nicht zu Glanz und Glorie.
Unten, in den Spielerkabinen, diskutierten sie. Die Spieler wollten nicht spielen. Sie wussten, was draussen geschehen war, oben im Sektor Z. « Man zwang uns zu spielen » , sagt der Pole Zbigniew Boniek heute, damals Stürmer der Juve, « man sagte uns, sonst breche ein Bürgerkrieg aus. » Man – das waren der Bürgermeister und der Polizeichef von Brüssel. Und die Uefa. Also spielten sie das absurdeste Fussballspiel der Geschichte, das schändlichste auch. Der Schweizer André Daina pfiff ein Foul gegen Boniek zwei Meter vor dem Strafraum und zeigte auf den Elfmeterpunkt. Als ginge es darum, die Tifosi für ihre toten Landsleute zu entschädigen. Michel Platini trat an, traf und jubelte, als wäre nichts gewesen. Am Tag darauf, als ihn die Polemik einholte, argumentierte der Franzose so: « Es ist traurig, aber die Show muss weitergehen. Wenn im Zirkus der Seiltänzer stürzt, dann tragen sie ihn weg und lassen die Clowns rein. » Am selben Tag titelte « L’Equipe » , die Sportzeitung aus seiner Heimat: « Der ermordete Fussball. » Es gab Stimmen, die Juventus aufforderten, die Trophäe zurückzugeben, weil sie mit Blut ver- schmutzt sei. Die Turiner dachten nicht daran. Giampiero Boniperti, eine Legende, fand, der Sieg sei verdient gewesen. Heute sagt er: « Bitte, erinnert mich nicht daran. » Es wurde verdrängt. Zum Beispiel die Geschichte von Roberto Lorentini, Arzt, Sektor Z, zu Tode getrampelt, als er einem Kind erste Hilfe leistete. Otello Lorentini, Robertos Vater, heute 80 Jahre alt, leitet die Vereinigung der Opferangehörigen. Zwanzig Jahre lang stritt er für Gerechtigkeit.
« Wir rannten gegen unantastbare Institutionen an: gegen die Uefa, gegen die belgische Regierung, gegen die Polizei » , sagte Lorentini der Turiner « La Stampa » nach der Auslosung für den bevorstehenden Viertelfinal in der Champions League. Hätten sie nicht insistiert, wären die Schuldigen nie zur Rechenschaft gezogen worden.
14 Hooligans wurden verurteilt, der Polizeichef, der belgische Verbandspräsident, der Sekretär der Uefa. Alle jedoch auf Bewährung, keiner der Verurteilten sass eine Haftstrafe ab. Otello Lorentini schlug den Vereinen vor, ein Gedenkspiel zu organisieren, zum Beispiel in Arezzo, wo sein Sohn gelebt hatte. Eine Art Versöhnung, eine schöne Geste. Man antwortete ihm nicht. Nun kommt es zum « Ernstkampf » , zwanzig Jahre danach, Hinspiel übermorgen Dienstag an der Anfield Road, Rückspiel im Delle Alpi. Platini will an beiden Spielen dabei sein: « Den Tifosi sage ich: Sucht keine Rache, lasst euch nicht versuchen, wir sollten jetzt das Kapitel abschliessen. » Rache? Es soll ein paar Hitzköpfe geben, wie immer. In Italien sind die Stadien Pulverfässer, immer noch.
Fabio Capello, der Trainer von Juventus, wünscht sich, dass seine Mannen auch im Gedenken an die Opfer spielen werden. Und im Gedenken an jenen schwülen Vorsommerabend in Brüssel, als der Fussball ein weiteres Stück seiner Unschuld verloren hatte.
VON OLIVER KAY (Liverpooler Fussballkorrespondent der «Times»)
Eingeklemmt zwischen Reihenhäusern – Anfield ist kein gewöhnliches Fussballstadion. Gehen Sie rund um die Tribünen, und Sie werden sich den berauschenden Düften der Geschichte nicht entziehen können: Vor dem berühmten Kop, der mächtigen Tribüne mit den treuen und lauten Fans, steht die Statue des legendären Trainers Bill Shankley.
Im Stadioninnern befinden sich lebensgrosse Aufnahmen der Liverpooler Helden wie Dalglish oder Rush. Und hinter der Anfield- Road- Tribüne flackert die ewige Flamme für die Opfer der Hillsborough- Katastrophe, die am 15. April 1989 in Sheffield 96 Liverpool- Fans das Leben kostete.
Doch suchen Sie, so lange Sie wollen: Sie werden kein Monument finden, das an die Opfer des Desasters vier Jahre zuvor erinnert. Das Hillsborough- Memorial wird von denjenigen permanent mit rot- weissen Blumen geschmückt, die ihre Nächsten auf den Tribünen in Sheffield verloren haben. Keine Blumen aber werden niedergelegt, um den 39 Menschen zu gedenken, die genau so tragisch im Heysel starben.
Für Liverpool – seine Supporter, den Klub, die Stadt – ist Heysel die Tragödie, deren Namen niemand auszusprechen wagt. Über Jahre wurde sie nur im Zusammenhang mit Liverpools sechsjährigem Ausschluss aus dem europäischen Fussball genannt, der Grund für die Sperre aber in den dunkelsten Nischen des Hirns versteckt.
Doch das Drama wurde zurückgeschoben in den Vordergrund durch die Champions- League- Auslosung. Und die Liverpool- Fans reagierten positiv darauf. Sie planen für Dienstag ein Mosaik über den Zuschauerköpfen des Kop, um den Italienern ihr Mitgefühl zu zeigen – und vielleicht auch, um sich zu entschuldigen. Bestimmt wird es eine Menge Transparente geben, um Freundschaft auszudrücken, am Nachmittag schon ist im stadionnahen Stanley Park ein Plausch- match zwischen den Fans angesagt. Und der Klub will die Möglichkeit nutzen und vermutlich an der Gedenkstätte in Turin einen Kranz niederlegen, wenn das Team eine Woche nach dem Hinspiel zum Auswärtsmatch antritt.
Alle diese Gesten sind willkommen. Doch wieso zeigte sie Liverpool nicht schon vorher? Wieso benötigten Klub und Fans 20 Jahre, um zu erkennen, was damals in dieser fürchterlichen Nacht von Brüssel geschehen ist? Unmittelbar nach dem Desaster waren die Emotionen so hoch gegangen, dass es schwierig gewesen wäre, Brücken zu bilden. Oft aber wird übersehen, dass Liverpool ein Jahr danach über den Verkauf von Ian Rush mit Juventus verhandelte. Und dass die Klubs, als der Stürmer nach einer Saison wieder zurückkehren wollte, eine Einigung fanden. Das Verhältnis auf Führungsebene war von diesen Augenblicken an herzlich. Kein Schritt aber wurde unternommen, um auch die Anhänger in den Prozess der Entspannung einzubinden.
Es wäre die einfachste Lösung gewesen, die Fangruppen mit einem Freundschaftsspiel zu vereinen. Das war in den ersten Jahren keine Option, weil es dem FC Liverpool während seiner Verbannung nur schon verboten war, Freundschaftsspiele gegen Teams vom Kontinent auszutragen.
Doch es wäre nach Liverpools Rückkehr 1991 möglich gewesen. Nun bietet sich den Klubs ohne ihr Zutun die Möglichkeit, sich an ihre tragische Vergangenheit zu erinnern. Manchmal war auf dem Kop ein Liverpooler im Juventus- Trikot zu entdecken, doch sind die Fans der Reds realistisch genug zu wissen, dass der Respekt nicht gegenseitig ist. Im Delle Alpi sind gelegentlich Transparente zu sehen, die den Hass gegen Liverpool ausdrücken. Die Fans, die am 13. April nach Turin reisen, werden das in Angst vor Rache tun. Und sie werden sich wünschen, die Hand für Freundschaft und Friede doch schon lange vor diesen Tagen gereicht zu haben.
Ein Teil der Schwierigkeiten der Liverpooler ist, dass sie für die Ereignisse im Heysel einen grossen Teil der Verantwortung übernehmen müssen. Andere Faktoren trugen dazu bei – Provokationen, hoffnungslos überforderte Polizisten, die fatale Entscheidung, das Spiel in diesem veralteten Stadion austragen zu lassen – , doch der Hooliganismus überwog alles andere.
Die Liverpooler hatten sich lange über der Hooligan- Kultur gesehen, die den englischen Fussball in den 70er- und 80er- Jahren überzogen hatte. Ihre Untugend war Stehlen, nicht Prügeln. In Brüssel wurde ihr Image als harmlosere, Spass liebende Lausbuben zerstört.
Der FC Liverpool zahlte für Brüssel einen hohen Preis. Als er in den europäischen Fussball zurückkehren durfte, befand er sich in einer Periode des Niedergangs. Der Klub hatte sein eigenes Desaster erlebt, als seine Fans auf den Rängen von Hillsborough in den Tod gequetscht wurden. Nur wenige andere Fans erleben einen Sinn für Gewissen und Schmerz, wie er an der Anfield Road existiert. Am Dienstag aber werden die Gefühle auf dem Kop neu und ungewöhnlich sein: ein verspäteter Ausbruch von Kummer und Trauer über eine Tragödie, die sie zu vergessen probierten. Und die Erinnerung daran, dass eine von Shankleys alten Maximen – « Im Fussball geht es nicht um Leben oder Tod – es geht um mehr » – schlicht nicht wahr ist.