"Die Ultraszene ist auf dem Weg, sich von der Gewaltfreiheit zu verabschieden und immer mehr auch hooliganähnliches Verhalten, gepaart mit ultraspezifischen Aktionen zu zeigen", stellt Pilz in dem Aufsatz "Gewaltgruppierungen in deutschen Fußballstadien" fest. Im Internet würden sich viele Ultra-Gruppen offen zu Gewalt bekennen. Pilz zufolge werden die Gewalttäter immer jünger und die Gewalthandlungen enthemmter, rücksichtsloser. Das Durchschnittsalter der Ultras liege bei 17 bis 18 Jahren.
Konfrontation Ost - West
In den neuen Bundesländern gebe es mehr Gewaltbereite unter den Fans als in den alten Bundesländern, so Pilz. Für ein Gutachten über die deutsche Ultra-Szene im Auftrag des Bundesinstituts für Sportwissenschaften wurden sämtliche Fangruppen der 1. bis 3. Liga befragt. Mehr als ein Viertel der Ost-Ultras hat der Umfrage zufolge gelegentlich Lust auf Zoff und reagiert auf Gewalt mit Gegengewalt. Im Westen gibt sich dagegen nur jeder Zehnte gewaltbereit. 7,4 Prozent der Ost-Ultras und 2,5 der West-Ultras geben an, regelmäßig an Gewalt beteiligt zu sein.
»Gewalt gehört auch zum Ultra dazu.«
Julius Neumann, Ultras Nürnberg
Außerdem sieht Pilz eine Konfrontation zwischen Ost- und West-Fans. "Es ist unverkennbar, dass einige Ultragruppierungen sowohl der neuen als auch der alten Bundesländer gegeneinander mobil machen."
Einige Ultras geben im Interview mit Frontal21 ihre Gewaltbereitschaft zu. "Gewalt gehört auch zum Ultra dazu, das ist eine Sache, die ganz wichtig ist", sagt Julius Neumann von den Ultras Nürnberg. "Aber man kann Ultras und Hooligans nicht in einen Topf schmeißen. Bei uns stehen noch andere Sachen im Vordergrund: Stimmung, Choreographien." Gewalt gehe nicht von den Ultras aus, sondern sei eine Reaktion auf Gewalt der Polizei.
ap
In Italien kam es kürzlich beim Spiel Inter Mailand - AC Mailand zu Ausschreitungen.
Ultras: Polizei ist Schuld
Sebastian Grau von den Ultras Nürnberg sieht das auch so. "Es kommt zu Gewaltaktionen gegen Ordnungsdienste und Polizei, wenn diese in einen Bereich eintreten oder gewisse Handlungen unterbinden, die für Fans selbstverständlich sind", sagt er. Wenn etwa Zaunfahnen angebracht oder Fahnen geschwenkt würden. "Wenn jetzt solche Dinge passieren, dann geht ziemlich vielen Leuten der Hut hoch, dann kann es leicht passieren, dass es zu einer Eskalation kommt."
Aggressionen auf Polizei und Ordnungskräfte beschreibt auch Pilz als einen Grund für Ausschreitungen. Ursprünglich wollten die Ultras ihre Vereine unter anderem mit aufwendigen Blockchoreographien, Spruchbändern und Fahnen unterstützen. "Dann gab es aufgrund der Aktionen, die sie gestartet haben - Pyrotechnik, die verboten ist, Choreographien, die sie im Stadion gemacht haben - immer mehr Auseinandersetzungen mit Ordnungsdienst und Polizei." So habe Repression eingesetzt, und die Ultras hätten sich gegängelt gefühlt. Das habe dazu geführt, dass sich ein Teil der Jugendlichen von der Gewaltlosigkeit verabschiedet habe. Feindbilder seien die Polizei und der DFB.
»Wer nur auf Repression setzt, der dreht mit an der Eskalationsspirale der Gewalt.«
Gunter Pilz, Sportsoziologe
"Erlebnissehnsucht" führt zu Gewalt
Eine weitere Rolle bei der Radikalisierung der Ultras spielen gewaltbereite, fremdenfeindliche Jugendliche, die sich durch die Massenveranstaltungen angezogen fühlen. "Erlebnissehnsucht macht das Fußballstadion für die Rassisten so attraktiv und deren Aktionen für manche Fans, Ultras und Hooligans im Sinne des 'Sensationsseeking' so verlockend", stellt Pilz in seinem Aufsatz fest. Die Ultraszene diene quasi als Auffangbecken für Aussteiger aus dem organisierten Rechtsradikalismus.
Der Fanbeauftragte von Dynamo Dresden, Torsten Rudolph, mahnt zu mehr Selbstregulierung innerhalb der Fangemeinde. "Das ist das große Problem: Es gibt keinen Selbstregulierungsmechanismus", sagt er Frontal21. "Es wird zuviel geduldet." Die Gruppe schütze regelrecht Gewalttäter. "Wir haben es hier nicht mit einer ganz großen gewaltbereiten Szene zu tun, sondern unser Problem sind die Mitläufer."
Zur Person:
Gunter A. Pilz ist Sportsoziologe an der Universität Hannover. Er ist außerdem Mitglied der Kommission Gewaltprävention des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und der Ethik- und Fairplay-Kommission der UEFA.
Konzept für Sport und Sicherheit
Der Polizei fehle noch das notwendige Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Gewalt, findet Rudolph. "Man hat den Eindruck, dass die repressiven Mittel immer weiter intensiviert werden", urteilt der Fanbeauftragte. "Die Fans sind die Leidtragenden. Wenn man mehr kommunizieren würde, wäre ein besseres Miteinander möglich."
Sportsoziologe Pilz sieht im "Nationalen Konzept Sport und Sicherheit" den richtigen Ansatz zur Lösung des Problems. Damit würden Repression und Prävention gut ausbalanciert. Das Konzept sieht vor, dass in Bundesligastädten und da, wo es Gewaltszenen gebe, Fanprojekte eingerichtet werden. Die Finanzierung sollen sich der Staat, der DFB und die Vereine teilen.
Fanprojekte brauchen Geld
Allerdings hielten sich aus finanziellen Gründen nicht alle Länder und Kommunen an diese Regelung. Stattdessen werde die Polizei eingesetzt. "Aber dann verlassen sie eigentlich den Konsens des Nationalen Konzepts Sport und Sicherheit", kritisiert Pilz. "Wer nur auf Repression setzt, der dreht mit an der Eskalationsspirale der Gewalt."
Das Land Sachsen zum Beispiel weigert sich, Fanprojekte direkt zu unterstützen. "Wir geben die Mittel für Jugendarbeit pauschal an die Städte, und sie können sie einsetzen, wie sie es für richtig halten", erklärt der sächsische Innenminister, Thomas de Maizière (CDU). Für die Sicherheit in den Stadien seien die Vereine zuständig.
Frontal21, Dienstag 21.00 Uhr.
Weitere Themen der Sendung:
Verwalten statt heilen
Kinder? Nein danke
Bei Anruf Abzocke
www.zdf.de/undnochwas...
Fanbeauftragter Rudolph beklagt dagegen: "Sachsen nimmt sich aus der Verantwortung heraus, obwohl die Probleme in Sachsen gravierend sind." Auch rein rechnerisch würde sich mehr Prävention lohnen. Bis zu 600.000 Euro koste ein Polizeieinsatz bei brisanten Spielen. Dagegen solle das Land sich nach den Vereinbarungen im "Nationalen Konzept Sport und Sicherheit" mit 30.000 Euro an Fanprojekten beteiligen. "Präventive Arbeit kann man leider schlecht in Zahlen messen", so Rudolph. "Man muss ihr Zeit geben - aber man muss vor allem mit ihr beginnen."