Gegen die Macht
Mit bald über 100.000 Mitgliedern ist Hajduk Split zwar nicht der erfolgreichste, aber der mit Abstand größte Verein in Kroatien. Jetzt will er endlich zum verhassten Rivalen aufschließen.
Von
Aleksandar Holiga
Dieser Text stammt aus 11FREUNDE #257, unserer aktuellen Ausgabe. Erhältlich am Kiosk eures Vertrauens oder direkt hier bei uns im Shop.
An der Südwand des Poljud-Stadions in Split sind die Jahreszahlen aufgeführt, in denen Hajduk einen Meistertitel gewonnen hat. Seit 18 Jahren ist keine Zahl mehr dazugekommen. Das ist die längste Durststrecke in der Geschichte des Klubs, selbst wenn man die Weltkriege mitzählt, in denen keine Meisterschaften ausgetragen wurden. Der Verein wurde 1911 gegründet, als Split Teil des österreichisch-ungarischen Reiches war, er durchlief zwei Inkarnationen Jugoslawiens, bis er zum unabhängigen Kroatien gehörte – und dennoch mussten Hajduk und seine Anhänger noch nie so lange auf die nächste Meisterschaft warten. Eine weitere Zahlenreihe an der Wand listet die gewonnenen nationalen Pokale auf. Die letzte Zahl, die dort steht, ist 2022, immerhin.
Wie es das Schicksal wollte, war Split im letzten Jahr als Austragungsort für das kroatische Pokalfinale ausgewählt worden, und Hajduk war qualifiziert. Nach dem 3:1‑Sieg gegen den adriatischen Rivalen Rijeka stürmten mehr als 20 000 Menschen – die Mehrzahl der 34 000 Zuschauer an jenem Tag – das Spielfeld, hüpften vor Freude und trugen die Spieler auf ihren Schultern. Die Pokalübergabe musste in den VIP-Bereich verlegt werden, weil die Sicherheitskräfte nicht in der Lage waren, die jubelnden Massen zu kontrollieren. Das Spielfeld sah aus wie bei einem Konzert von Rage Against the Machine in den Neunzigern, und die Fans gingen anschließend mit Rasenstücken oder Teilen der Tornetze nach Hause. Einige – genau genommen waren es vier Hajduk-Spieler, von denen zwei bereits vor der Saison ins Ausland gewechselt waren, sich aber nach dem Spiel noch zu ihren ehemaligen Mitspielern gesellten – nahmen sogar einen der Torpfosten mit.
Neun Monate und zwei Cheftrainer später liegt Hajduk in der Tabelle elf Punkte hinter Dinamo Zagreb zurück und empfängt eine Woche vor dem großen Derby in der Hauptstadt den Tabellenletzten Gorica. Während sich die Tribüne füllt, dröhnt aus den Stadionlautsprechern eine ziemlich eklektische Playlist – von Punkrock über Hip-Hop bis hin zu einer Art mediterranem Schlager, manchmal sogar alles in einem Stück vereint –, und es ist schnell zu hören, dass jedes der Lieder etwas mit Hajduk zu tun hat. Sie wurden entweder aus der Perspektive der Fans geschrieben oder von ihnen als Gesänge mit leicht abgewandeltem Text übernommen.
Die Mannschaft ist in keiner guten Verfassung, dennoch wird 2023 wohl aus einem ganz anderen Grund in die Geschichtsbücher von Hajduk eingehen. Es könnte das Jahr sein, in dem die Unterstützung für den Verein und das, wofür er steht, auf einen neuen Höhepunkt zusteuert, ganz unabhängig von Titeln und Pokalen. Oder wie es auf einem Spruchband der Fans heißt: „Ergebnisse sind ein Trend, Ideale sind ewig.“ Bis Ende des Jahres strebt Hajduk die Zahl von 112 000 Mitgliedern an, eine Marke, die daher rührt, dass der Verein 112 Jahre alt wird, was auch während des Gorica-Spiels gewürdigt wird. Mehr als 112 000 Mitglieder haben selbst in der viel größeren Bundesliga nur Bayern, Schalke, Dortmund, Frankfurt und Köln.
Inspiriert von der 50+1‑Regel
Die große Zahl ist dabei weit mehr als nur von symbolischer Bedeutung. Volljährige Mitglieder nehmen an den Vollversammlungen teil und wählen den Aufsichtsrat, der dann den Vorsitzenden von Hajduk ernennt. Die im Bündnis Nas Hajduk (Unser Hajduk) zusammengeschlossenen Mitglieder haben auch eine Beteiligung am Verein erworben (aktuell 26,39 Prozent), und sind nach der Stadt Split der größte Anteilseigner, der dafür sorgt, dass Hajduk seine Identität als „Klub des Volkes“ behält und seine Seele nicht an den Meistbietenden verkauft. Inspiriert wurden sie durchs spanische Socios-Modell, die 50+1‑Regel und Fankampagnen in ganz Europa.
„Worauf es wirklich ankommt, ist Verantwortungsbewusstsein und die Besinnung auf unsere Wurzeln“, sagt Ivan Rilov, einer der Köpfe von Nas Hajduk und von Beruf Arzt. In der Vergangenheit wurde Hajduk von inkompetenten Vorsitzenden, die von der Stadtregierung eingesetzt wurden, an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs gebracht. Heute ist die Politik aus der Führung des Klubs ausgeschlossen, stattdessen wurden eine Reihe professioneller und moralischer Kriterien aufgestellt, die jeder, der bei den Klubwahlen antritt, erfüllen muss. „Wenn wir sie einfach machen ließen, was sie wollen“, sagt Rilov, „hätten wir das Gefühl, dass wir unsere Gründer und die Idee unseres Klubs im Stich lassen.“
Von außen betrachtet mag Hajduk wie ein gefallener lokaler Riese wirken, der in Erinnerungen an glorreiche Zeiten schwelgt, als Titel und Erfolge in europäischen Wettbewerben noch selbstverständlich waren. Das letzte Mal, dass der Klub in Europa auf sich aufmerksam machte, war Mitte der Neunziger, als er das Viertelfinale der Champions League erreichte. Doch wenn man genauer hinschaut, sieht man heute eine blühende Gemeinschaft, die für ihre Ideale kämpft, kontra mraku, kontra sili, wie das inoffizielle Motto des Vereins lautet: gegen die Dunkelheit, gegen die Macht. Wie kann das vor dem Hintergrund der längsten erfolglosen Zeit in der Vereinsgeschichte funktionieren?
„Das Beste, was im ganzen Land passiert. Nicht nur in Bezug auf den Fußball“
Wer das wissen will, darf nicht mit Direktoren und Geschäftsführern sprechen, auch nicht mit Trainern und Spielern, sondern mit denjenigen, die maßgeblich an der Gründung und am Wachstum der Bewegung beteiligt waren. Denn es geht hier nicht nur um einen Fußballverein. Es geht um eine Gemeinschaft und Hajduk als integralen Bestandteil.
Vor dem Spiel gegen Gorica steht Fjodor Klaric im örtlichen Fotoklub, einem der wenigen Räume im Stadtzentrum von Split, die nicht touristisch sind. Klaric ist unter dem Namen Fedia bekannt, ein Fotograf, der einige der legendärsten Hajduk-Fotos gemacht hat. Über den Verein sagt er: „Er ist das Beste und Positivste, was heute im ganzen Land passiert. Und das meine ich nicht nur in Bezug auf den Fußball. Hajduk ist viel mehr als das.“ Im Fotoklub ist eine Ausstellung von Klaric zu sehen, mit Porträts des legendären Satirikers und Schriftstellers Miljenko Smoje aus Split. Klaric hat den 1995 verstorbenen Smoje viele Jahre lang bei seinen Unternehmungen begleitet, die auch viel mit Hajduk zu tun hatten. Unter anderem schrieb er das Kultbuch „Die Hajduk-Legende“, aber auch eine beliebte Fernsehserie namens Velo misto („Unser großes Städtchen“), eine Art Stadtchronik, die den Verein und seine Gründer durch die ersten Jahrzehnte begleitet. Man könnte sagen, dass es Smoje zu verdanken ist, dass Hajduk als zentraler Teil der städtischen Identität etabliert wurde, obwohl die Verbindung anscheinend schon immer da war. Er hat nur die Worte dafür gefunden.
Heutzutage ist es schwierig, in Split relevante Personen des öffentlichen Lebens zu finden, die nicht in irgendeiner Weise mit Hajduk verbunden sind. Das gilt auch für Boris Dezulovic, einen preisgekrönten Kolumnisten und die prominenteste Medienstimme der Linken in Kroatien. Seine Sammlung von Geschichten aus der Historie von Hajduk mit dem Titel „Das weiße Buch“ wurde im letzten Jahr veröffentlicht und schnell zum nationalen Bestseller. „Hajduk ist eine ernsthafte Religion“, sagt Dezulovic, „aber jedes Mal, wenn sie spielen, verwandle ich mich in einen achtjährigen kleinen Idioten, der rumspringt, Hajduk-Lieder singt und an Wunder glaubt.“ Dezulovic findet auch, dass der Anteilserwerb durch die Fans „einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Titel“ in der Geschichte des Vereins war. „Das steht auf einer Ebene mit dem Widerstand gegen Faschisten und Kommunisten.“
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Split von Italien besetzt und annektiert, und ‑Hajduk wurde angeboten, der Serie A beizutreten. Alle Reisekosten sollten übernommen und ein nagelneues Stadion gebaut werden, den Spielern und ihren Familien wurde Sicherheit garantiert. Der Verein lehnte ab und erklärte, er wolle sich lieber auflösen, was er dann auch tat. Auch der Versuch der Faschisten, einzelne Spieler abzuwerben und einen neuen Verein zu gründen, blieb erfolglos, da keiner der Sportler der ersten Mannschaft auf das Angebot einging. Nach der Kapitulation Italiens wollten dann die kroatischen Faschisten, die Ustascha, den Verein in die Liga Kroatiens aufnehmen, doch auch das war mit Hajduk nicht zu machen. Stattdessen wurden Spieler, Funktionäre und Mitarbeiter illegal auf die Insel Vis evakuiert, ein befreites Gebiet, wo der Verein 1944 neu gegründet wurde. Er vertrat den jugoslawischen Partisanenwiderstand in Freundschaftsspielen gegen die alliierten Soldaten in Süditalien. Das berühmteste dieser Spiele fand im September 1944 im ausverkauften Stadio San Nicola in Bari statt. Gegner war eine sehr starke britische Armee-Elf, zu der auch mehrere Vorkriegsnationalspieler wie Stan Cullis gehörten.
Ein Klub, der sich lieber auflöst als zu kollaborieren
Hajduk tourte durch die befreiten Gebiete des östlichen Mittelmeers, bestritt über 90 Spiele und warb für seine antifaschistische Haltung, während alliierte Flugzeuge in ganz Europa Flugblätter abwarfen, die andere Mannschaften aufforderten, diesem Beispiel zu folgen, und Charles de Gaulle Hajduk den Titel einer Ehrenmannschaft des Freien Frankreich verlieh. Wegen seiner Anstrengungen im Krieg durfte Hajduk, im Gegensatz zu anderen großen jugoslawischen Klubs, die während der Besatzung einfach weitergemacht hatten, auch nach 1945 noch spielen. Das neue kommunistische Regime wollte jedoch, dass Hajduk nach Belgrad umzog und ein offizieller Armeeklub nach sowjetischem Vorbild würde, doch auch das lehnte der Verein ab, wissend, dass ihn diese Art von Ungehorsam teuer zu stehen kommen könnte.
Die historische Botschaft ist also eindeutig: Dies ist ein Klub, der sich lieber auflöst als zu kollaborieren. Einer, der alles riskieren würde, um seinen Wurzeln und seiner Gemeinschaft treu zu bleiben. Und genau das ist es, worum es bei Nas Hajduk wirklich geht.
Auch abgesehen von den Wirren des Krieges ist Hajduk ein ziemlich geschichtsträchtiger Verein. Zum Beispiel, weil er mit der Torcida über die älteste organisierte Fangruppe Europas verfügt. Die wurde 1950 gegründet und bald von den Behörden verboten, um Jahrzehnte später in einer moderneren Form als Ultras wiederaufzutauchen. Ein großer Teil der Torcida ist heute politisch eher der Rechten zugeneigt, doch der Klub steht über solchen Spaltungen, was sich auch daran ablesen lässt, dass die Bewegung Nas Hajduk ursprünglich aus der Torcida hervorging, die sich schon seit den späten Nullerjahren dafür eingesetzt hatte, dass der Verein in Fanbesitz ist. 2011 hatte der damalige Bürgermeister von Split, Zeljko Kerum, keine Lust mehr, sich mit diesen Leuten rumzuschlagen. Er bot ihnen an, den Aufsichtsrat selbst zu ernennen und den hochverschuldeten Verein zu übernehmen, da er der Meinung war, dass dieser ohnehin dem Untergang geweiht wäre. Ganz im Sinne der Vorbilder aus der Hajduk-Geschichte lehnten sie ab.
„Wir waren zu fünft, genau hier auf dieser Terrasse“, sagt Damir Petranovic, einer der Gründer von Nas Hajduk. Die Terrasse gehört zum Café Krom, das vor den Spielen von den eingefleischten Fans besucht wird. „Wir hatten die ganze Nacht durchgemacht und kamen auf die Idee eines angepassten Vereinsmodells mit Wahlen“, erzählt Petranovic. Das stieß zunächst auf Skepsis, in Split wie auch in den überregionalen Medien, die ohnehin das Vorurteil pflegen, Hajduk würde „von der Straße regiert“. Obwohl die gewählten Aufsichtsräte angesehene Wirtschaftswissenschaftler, Unternehmer, Juristen und Soziologen waren, wurde das Modell angezweifelt und belächelt, doch heute lässt sich sagen: Es hat den Verein gerettet und wirtschaftlich stabilisiert.
Auf dem Weg dahin wurden viele Fehler begangen, weil Hajduk ungeduldig darauf wartete, mit dem erbitterten Rivalen Dinamo auf Augenhöhe zu kommen und gleichzeitig die Leichen im eigenen Keller zu beseitigen, die frühere Vorstände dort hinterlassen hatten. Es war eine fast unmögliche Mission, denn Zdravko Mamic – der verurteilte Verbrecher, der Dinamo-Präsident war – spannte sein Netz aus Korruption im kroatischen Fußball und behielt großen Einfluss auf die Liga und die Schiedsrichter, aber auch auf andere Bereiche wie die Medien, das Justizsystem und die Polizei. Als die Gerechtigkeit ihn endlich einholte, floh er und fand Zuflucht in Bosnien-Herzegowina. Gleichwohl nimmt Dinamo immer noch regelmäßig an UEFA-Wettbewerben teil, was dem Verein außerordentliche Gewinne beschert und seine Vormachtstellung im eigenen Land Jahr für Jahr festigt.
Doch Hajduk gibt nicht auf. „Heute haben wir ein enormes intellektuelles Kapital bei Nas Hajduk“, sagt Petranovic. „Jeder arbeitet zwar ehrenamtlich, aber von der Struktur her sind wir fast wie ein Unternehmen organisiert, mit Experten in jedem Bereich.“ Goran Antonijevic, der in den Sozialen Netzwerken unter seinem Pseudonym Dvanaesti Novinar (Der zwölfte Journalist) bekannt ist, stimmt dem zu: „Der kontinuierliche Zustrom neuer Generationen macht uns stärker“, sagt er, „auch wenn der Verein selbst noch hinterherhinkt. Es geht voran, jedoch viel langsamer, als wir es uns gewünscht hätten.“
Das Gewicht des Hajduk-Trikots
All dies, die Wucht der Geschichte und die ganzen Ideale, kann auch eine schwere Last sein, vor allem für die Spieler. Man sagt, dass das Hajduk-Trikot „viel mehr wiegt als andere“, weil es zu tragen ständigen Druck bedeutet. Der Tabellenletzte Gorica erweist sich als harte Nuss, bei Kontern stets gefährlich, während sich Hajduk schwertut, den Ball laufenzulassen. Es existiert kein vernünftiges Pressing, die Verbindung zwischen den Mannschaftsteilen funktioniert nicht und es gibt kaum Torchancen. Bis zur Pause bleibt es beim 0:0 und die vereinzelten Unmutsäußerungen verwandeln sich in ein kräftiges Pfeifkonzert. Hajduk spielt einfach schlecht und das Publikum ist tief enttäuscht. Erst nach 58 Minuten brandet Jubel im Poljud auf, als Stürmertalent und Kapitän Marko Livaja – derzeit der wohl populärste Einwohner von Split – einen Kopfball ins Netz setzt. Pyro wird gezündet und das Stadion singt ein Geburtstagsständchen, doch Gorica profitiert von einem Stockfehler in der Abwehr und schlägt fast sofort zurück. Später kommt der erfahrene Stürmer Nikola Kalinic von der Bank und erzielt den Siegtreffer, doch die meisten Fans verlassen das Stadion eher entmutigt als glücklich.
Am Wochenende drauf wird Hajduk im Derby bei Dinamo Zagreb eine herbe 0:4‑Niederlage einstecken und befindet sich danach endgültig im Niemandsland der Tabelle: zu weit von der Spitze entfernt, aber auch neun Punkte vor dem Drittplatzierten Osijek. Doch dieses Mal ist die Unterstützung der Fans, von denen die meisten durch einen Schneesturm nach Zagreb gereist sind, überwältigend. Während die beschämten Spieler zum Gästeblock kommen, um sich zu bedanken, singen die Leute ein Lied über Trauer und Vergebung und versprechen, sich nie von ihrem Team abzuwenden.
Später am Abend nach dem Gorica-Spiel gibt indes ein anderes Lied den Ton an. „In guten wie in schlechten Tagen“, schallt es leise aus dem lokalen Radiosender ins Taxi, „ich kann nicht anders, als ihn zu lieben.“ Und dann stimmt der Taxifahrer lauthals mit ein: „Weil Hajduk mich glücklich macht, und ich kann nicht anders, als es zu lieben.“