Goal hat geschrieben:Warum Hannovers Ultras viertklassig sindEin großer Teil der organisierten Fans von Hannover 96 jubelt nur noch für die U23Von Claas Philipp
04.08.2014 15:13:34
Die organisierte Fanszene von 96 ist abgestiegen, von der ersten in die vierte Liga. Und zwar freiwillig. Es ist die Folge eines ausgeuferten Streits zwischen Verein und Anhang.Hannover. Am ersten Spieltag der Regionalliga gastierte die zweite Mannschaft von Hannover 96 beim VfB Oldenburg, nach Toren von Can Tuna und Malte Grashoff trennten sich beide Mannschaften vor etwas mehr als einer Woche mit 1:1. Soweit, so gewöhnlich - wären da nicht 800 mitgereiste 96-Fans gewesen, die ihre Mannschaft nicht nur überaus stimmgewaltig, sondern auch mit einer kleinen Choreographie unterstützten. In Oldenburg staunte man ob der für ein Viertligaspiel ziemlich beeindruckenden Kulisse im Gäste-Fanblock nicht schlecht.
Bei 96 hingegen scheint man nicht allzu stolz auf den Support für das Amateurteam zu sein. In den Social-Media-Kanälen des Vereins wurden die Vorgänge am Rande der Partie in Oldenburg mit keinem Wort erwähnt, im Spielbericht auf der Homepage waren sie nicht einmal eine Randnotiz wert. Der Klub verzichtete darauf, sich mit der außerordentlichen Unterstützung für das U23-Team, das sonst gerne mal vor 200 Leuten spielen muss, zu brüsten. Die Verschwiegenheit könnte Gründe haben.
Der große Einsatz der Fans für die zweite Mannschaft von 96 nämlich ist die Folge eines Streits. Eines Streits zwischen der organisierten Fanszene auf der einen und Vereinsvorstand sowie einem Teil der übrigen Anhänger auf der anderen Seite. Ein Streit, der sich über Jahre hinweg immer weiter aufgeschaukelt hat - bis es schließlich zur Trennung kam: Nach Ende der letzten Saison entschieden sich die "Ultras Hannover" und weitere Fan-Gruppierungen dazu, den Spielen der Profi-Mannschaft fernzubleiben. Die so freigewordenen Energien steckt man nun in den Support der U23, die an den ersten beiden Spieltagen der neuen Saison davon profitierte.
Wie aber konnte es überhaupt soweit kommen, dass der größte Teil der organisierten Fanszene eines Bundesliga-Vereins mit der eigenen Profi-Mannschaft bricht? Es ist die Geschichte zweier Fronten, die sich kontinuierlich verhärtet und voneinander entfernt haben.
Der Disput entfachte sich erstmals deutlich wahrnehmbar an einem Banner mit dem Konterfei des Massenmörders Fritz Haarmann, der in Hannover zur Stadtfolklore gehört wie Jack the Ripper zu der von London. Dieser Banner war bis zur Saison 2012/13 dauerhaft in der 96-Fankurve präsentiert worden, bis sich die Bild-Zeitung darüber echauffierte. Klub-Präsident Martin Kind Kind nahm diese Berichterstattung zum Anlass, die Fahne verbieten zu lassen.
Sie war trotzdem vorerst weiter im Block zu sehen. 96 reagierte mit Stadionverboten, die laut Ultras den nicht-öffentlichen Absprachen mit Kind widersprachen. Die Fans fühlten sich ungerecht behandelt, dokumentierten dies in einem Flyer. Der Verein verbot schließlich auch die Verteilung des Info-Blattes im Stadion.
Es ist nur eine Episode von vielen. Hinzu kamen öffentliche Äußerungen von Kind, die in der Szene nicht gut ankamen. Nach einem Spiel beim VfL Wolfsburg etwa, bei dem die Anhänger den zum VW-Klub gewechselten Emanuel Pogatetz mit wenig freundlichen Worten betitelten, sagte der Hörgeräteunternehmer: "Ein Teil unserer Fans sind Arschlöcher."
"Martin, Du wirst alt!"Ein großes Streitthema war stets auch die Verwendung von Pyrotechnik. Im Februar 2013 bestrafte der Verein die Fans für die Verwendung von Bengalos, indem er im Europa-League-Heimspiel gegen Anzhi Makhachkala die Eintrittspreise um fünf Euro anhob - allerdings nur für bestimmte Bereiche des Fanblocks. Kind sprach von einer "selektiven Kollektivstrafe". Die Ultras reagierten, indem sie Behauptungen über Absprachen bezüglich der Häufigkeit der Verwendung von Pyro-Technik öffentlich machten.
Man habe sich über einen Mittelsmann mit Kind darauf geeinigt, wie oft pro Saison Bengalos gezündet werden dürfen, ohne Konsequenzen von Vereinsseite fürchten zu müssen, erklärte die Fan-Gruppierung in einem öffentlich Statement. Gegenüber Goal dementierte der Präsident dies damals, im folgenden Heimspiel hielten die Ultras ein Banner mit der Beschriftung "Dementi = Demenz? Martin, du wirst alt!" hoch.
Das Tischtuch war endgültig zerschnitten. Zuvor schon hatte der Verein den Fangruppen "Ultras Hannover" und "Brigade Nord" Privilegien wie die Verwendung eines Containers zur Lagerung von Fan-Utensilien gestrichen sowie die Vorbereitung von Choreographien im Stadion untersagt, nachdem beim Pokal-Spiel gegen Dynamo Dresden bengalische Feuer gezündet wurden. Die Ultras erklärten den Dialog mit dem Verein daraufhin für beendet.
Im April 2013 gab der 96-Fan-Dachverband "Rote Kurve" bekannt, dass er sich als Verein mit seinen 5.000 Mitgliedern auflösen werde. Man sah keine Basis mehr für einen Dialog mit dem Verein. "In den Gesprächen ging es von 96-Seite zuletzt fast immer nur um das Thema Pyrotechnik. Man hatte das Gefühl: Ich kann hier noch Lichtjahre sitzen und werde trotzdem nicht verstanden", sagte Rote-Kurve-Vertreter Andreas Beck gegenüber der Hannoverschen Allgemeine Zeitung kurz vor der Auflösung.
Die Vereinigung kritisierte zudem, dass sie für 96 "in der öffentlichen Darstellung vor allem als Sündenbock" diene und sogar zur Rechenschaft gezogen werden sollte, um Strafen für Pyrotechnik wieder reinzuholen. Der Klub wollte ihr darüber hinaus eine Rolle als Kontrollorgan für Fans, die sich strafbar machten, zuteilen. "Wieso müssen wir dieses Problem lösen?", fragte Beck. Seit Anfang 2014 besteht die "Rote Kurve" nur noch als Interessengemeinschaft.
Massenhafter Pyro-Einsatz im DerbyIn der vergangenen Saison beim Derby gegen Eintracht Braunschweig ging Kind dann wieder einen Schritt auf die Fanszene zu, als er ihr erlaubte, im Heimspiel gegen den ewigen Rivalen eine Choreographie auf die Beine zu stellen. Die Anhänger jedoch schmuggelten Pyro-Material ins Stadion, in der Partie gegen den BTSV wurde fast 90 Minuten durchgehend gezündelt. Für den Verein ein teures Vergnügen, die von der DFL auferlegten Strafen für derartige Vergehen sind schmerzhaft. Das Verhältnis zwischen Verein und organisierten Fans wurde einmal mehr belastet, diesmal waren Ultras & Co. dafür verantwortlich.
Die Ereignisse vor dem Rückspiel in Braunschweig am 29. Spieltag der vergangenen Saison schließlich brachten das Fass zum Überlaufen. Das Sicherheitskonzept von Polizei und Verein sah vor, den 96-Fans die eigene Anreise zu verbieten und sie dazu zu zwingen, per organisiertem Konvoi mit Bussen anzureisen. So sollten Ausschreitungen, wie es sie im Rahmen des Hinspiels vereinzelt gab, beim Risiko-Spiel verhindert werden.
Dagegen hatten elf Auswärtsdauerkarteninhaber geklagt - und vor Gericht recht bekommen. Sie durften individuell anreisen. Ihre Karte holten die Kläger sich mit einem Gerichtsvollzieher bei der 96-Geschäftsstelle ab.
86 weitere Anhänger wollten sich die eigene Anfahrt ebenfalls erklagen, vor dem Amtsgericht Hannover bildete sich am Tag des Derbys eine lange Schlange. Der Verein jedoch stellte kurzerhand einen Befangenheitsantrag gegen die zuständige Richterin, damit diese nicht mehr rechtzeitig vor Anpfiff zugunsten der Kläger entscheiden konnte. Eine juristische Spitzfindigkeit, mit der man gegen die eigenen Anhänger vorging. Man kann sich vorstellen, wie das in der Szene ankam - die 0:3-Niederlage in dem für nicht wenige Anhänger wichtigsten Spiel des Jahres tat ihr Übriges.
Unter dem Eindruck dieser Vorkommnisse stellten die organisierten Fans in den letzten Partien vor der Sommerpause 2014 ihren Support schließlich komplett ein. Sie waren bei den Spielen zwar anwesend, verzichteten aber auf Anfeuerungsrufe. Das wiederum kam bei den übrigen 96-Anhängern nicht gut an, die schon für die "Kind muss weg"-Rufe, die im Saisonverlauf immer wieder aus dem Ultra-Block kamen, kaum Verständnis hatten. Für viele Stadionbesucher ist Kind unantastbar, dessen sportliche Erfolge geben ihm recht.
Die Situation eskalierteIn der Endphase der letzten Saison wurden nun auch die "Ultras raus"-Rufe lauter, es flogen sogar Becher in den Block, der sonst das Herzstück des Stadions war. Auch körperliche Auseinandersetzungen zwischen den beiden Fan-Blöcken und der Polizei gab es. Allen Beteiligten war klar, dass es so nicht weitergehen kann, die Entscheidung der organisierten Fans, ab sofort in der Regionalliga für Stimmung zu sorgen, erscheint nachvollziehbar.
Fakt ist, dass es kaum einen Verein gibt, der einen solchen Konfrontationskurs mit der eigenen Fanszene fährt wie 96. In Kreisen von Fan-Forschern wundert man sich über die fehlende Kommunikationsbereitschaft von Kind & Co. und das mangelnde Verständnis für die Belange des Anhangs. Es scheint so, als habe man das Potenzial, das eine starke organisierte Fanszene birgt, nicht erkannt - ein Blick nach Dortmund oder Schalke würde helfen.
Die positiven Effekte solch einer organisierten Fanszene waren aber auch in Hannover nicht zu übersehen. Sie hat sich stets mit viel Herzblut und großem Einsatz für den Verein engagiert. Etwa beim Erstellen aufwendiger Choreographien, beim Kampf gegen Rassismus oder der Durchführung von Hilfsprojekten. Sie organisierte zudem für alle interessierten Anhänger die Fahrten zu Auswärtsspielen - auch diesen Service wird man zukünftig nicht mehr anbieten.
Was passiert mit dem Supporters Block?
Im ehemaligen Block der "Roten Kurve", wo unter anderem die "Hannover Ultras" beheimatet waren, sollen aufgrund des Boykotts etwa 800 der 1000 Dauerkarten nicht verlängert worden sein. Die freigewordenen Tickets gehen zum Teil in den freien Verkauf, allerdings nicht alle. Hannover 96 bestätigte gegenüber Goal, dass ein "begrenztes" Kontingent auch an Sponsoren gehe, die diese Karten an ihre Mitarbeiter weitergeben. Der Klub widersprach jedoch Berichten, wonach die Tickets für Sponsoren in diesem Block vergünstigt seien.
Nicht zuletzt war die Szene der Katalysator der Stimmung bei 96-Heimspielen - ohne sie dürfte es in der nächsten Saison zumindest bei Spielen, in den es für Hannover nicht so gut läuft, unangenehm ruhig im Stadion bleiben. Der große Gegenwind, der ihr zuletzt von Teilen der übrigen Anhänger entgegen schlug, ist daher nur bedingt zu verstehen.
Man kann den Boykott von Ultras & Co. sicherlich ein Stück weit nachvollziehen. Wer sich in solch einem Umfang für den Verein einsetzt und dafür kaum Gegenliebe bekommt, wird frustriert. Allerdings steht auch der Vorwurf im Raum, dass man die eigenen Interessen über die der Mannschaft stellt. Etwa beim Verzicht auf Unterstützung zum Ende der vergangenen Saison, als 96 jeden Punkt im Kampf gegen den Abstieg benötigte und zum Teil mit großem Einsatz aufspielte, der Block aber stumm blieb.
Die Frage, die sich viele stellen: Sollte man das Team nicht bedingungslos unterstützen, wenn es um den Klassenerhalt kämpft? Kann man nicht über den Dingen stehen, auch wenn der Verein sich nicht so verhält, wie man es gerne hätte?
Dazu mag jeder seine eigene Meinung haben. Die Entscheidung eines großen Teils der Szene jedenfalls steht fest, die Profi-Mannschaft wird ohne sie auskommen müssen. "Mit den aktuellen Personen bei Hannover 96 sind keine Gespräche mehr möglich", so ein Vertreter der aktiven Fanszene in einem Interview mit dem Internetportal Faszination Fankurve. "In Gesprächen kommt Martin Kind häufig sehr verständnisvoll rüber, aber am Ende kommt nichts bei rum und wir werden hingehalten. Lippenbekenntnisse seitens des Vereins reichen nicht mehr."
Die Freude am Fußball will man sich dennoch nicht nehmen lassen: "Oldenburg, Meppen, Lübeck, und die Zweitvertretungen von Braunschweig, Wolfsburg und Bremen hören sich im Vergleich zu Hoffenheim und schon wieder Schalke oder München doch auch nicht schlecht an." Und so durfte sich das U23-Team am Samstag im 6.000 Zuschauer fassenden Beekestadion in Hannover-Ricklingen erneut über stimmgewaltige Unterstützung freuen - und die Fans sich über einen 1:0-Sieg gegen Weiche Flensburg.