Halb italien - halb entlebuch - magisches luzern
Verfasst: 27. Jul 2008, 22:14
lesenswert, aus der aktuellen weltwoche.
schade, wurde ein seetaler als autor ausgewählt, starten sollte der artikel eigentlich am seempachersee.
gruss auch an die neuenkircher ...
schade, wurde ein seetaler als autor ausgewählt, starten sollte der artikel eigentlich am seempachersee.
gruss auch an die neuenkircher ...
Kantonsserie (15)
Luzern - Land der Mitte
Von Philipp Gut
Konservativ und rebellisch, bäuerlich und mondän, fromm und festfreudig: Die Luzerner wohnen in einem Kanton des Ausgleichs, der endlich auch wirtschaftlich vorwärtsmacht.
Luzerns grösstes Kapital ist vielleicht seine Schönheit. Wir fahren regelmässig von Zürich nach Hitzkirch im Luzerner Seetal, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Eltern leben (womit die sozusagen natürlichen Interessenbindungen des Verfassers offengelegt wären). Ein erstes Mal ansehnlich wird die Landschaft im katholischen Freiamt, das sich kulturell an der Stadt Luzern orientiert und von der Reuss durchflossen wird, die es ist nun mal so von Luzern her kommt. Wirklich bemerkenswert wird die Natur allerdings erst, wenn man jenseits des Lindenbergs und der Kantonsgrenze bei Hämikon um eine scharfe Linkskurve biegt und plötzlich den Baldeggersee unter sich liegen sieht, eingebettet zwischen zwei Hügelzügen, umgeben von Kirschen- und Apfelbäumen, während der Blick im Hintergrund hypnotisch vom Pilatus angezogen wird, weltberühmter Hausberg der Stadt und zugleich magisches Zentrum des Kantons Luzern.
Das Seetal, dachte man im 19. Jahrhundert, sei so schön, dass die Touristen, die auf der Gotthardstrecke in den Süden reisen, gern einen Umweg in Kauf nähmen. Mit dieser Geschäftsidee baute man die Seetalbahn von Lenzburg an die Gestade des Vierwaldstättersees. Sie wurde ein Flop. (Und gefährlich: Wegen der vielen unbewachten Bahnübergänge nannten wir sie «Kundenmetzger». Heute, dies zur Beruhigung, ist die Bahn saniert.)
Den Weg nach Luzern fanden die Touristen dennoch. Und wie! Die atemberaubende Lage an See und Fluss, zwischen runden Hügeln und zackigen Bergen, die Wahrzeichen Mus-eggtürme, Löwendenkmal, Wasserturm und - wie der Luzern-Kenner Paul Rosenkranz schreibt - «das Zeichen aller Zeichen», die Kapellbrücke: All dies lockt täglich Scharen von Engländern, Deutschen, Amerikanern, Japanern und jüngst auch immer mehr Russen und Chinesen in die Stadt. Die mondänen Hotels am Quai mit ihrem Ausblick auf den verwinkelten See und die Gipfel der Innerschweiz - vergleichbar grandios logieren lässt sich vielleicht nur noch am Meeres-Steilhang des sizilianischen Taormina - verleihen der Stadt ein urbanes Flair, das sie von Provinzzentren mit ähnlicher Bevölkerungszahl unterscheidet. In der Fremdensaison, hat ein Beobachter bemerkt, sei Luzern eine «kleine Grossstadt», sonst eine «grosse Kleinstadt».
Es sind allerdings nicht nur die Touristen, die mit dem Label «Luzern» vor allem die Stadt verbinden. Auch in der Geschichte kam der Hauptort oft zuerst, das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zur Landschaft prägt den Kanton bis heute. In der Stadt sassen die «gnädigen Herren», auf der Landschaft die Untertanen. Als eigentlicher Geburtstag des Standes darf der 9. Juli 1386 gelten, der Tag der Schlacht bei Sempach. Mit tatkräftiger Unterstützung der Urschweizer, deren Bund man sich 1332 angeschlossen hatte, besiegten die Luzerner mit ihren Hellebarden und Morgensternen das habsburgische Ritterheer. 1415, bloss 30 Jahre später, war Luzern weitgehend im Besitz des heutigen Territoriums.
Zuvorderst die Entlebucher - ein Völkchen so musisch wie knorrig, so konservativ wie rebellisch - haben sich wiederholt gegen die städtischen Patrizier aufgelehnt. In Erinnerung geblieben ist vor allem der Bauernkrieg von 1653, dessen Anführer gehenkt wurden.
Guerilla-Taktik an Wahltagen
Während die Stadt seit der Aufklärung ein Biotop des liberalen Geistes ist, gilt die Landschaft bis heute als überwiegend konservativ. Der Kulturkampf zwischen den Roten (so nannte man in Luzern die Katholisch-Konservativen) und den Schwarzen (Liberalen) wurde in keinem andern Kanton so erbittert geführt wie hier. Entscheidend für die lokale Politik, aber auch für die Beziehung Luzerns zur übrigen Schweiz, war der Sonderbundskrieg von 1847. Er ebnete den Weg zum Bundesstaat - über die Niederlage der katholischen Kantone und ihres Vororts Luzern hinweg, der als Bollwerk der Gegenreformation gedient hatte. Dem stolzen Stand haftete fortan ein Verliererimage an, das sich durch die schwache Industrialisierung auch ökonomisch ausprägte.
Seit 1871 gibt es im Kanton, in dessen Ställen beinahe jedes vierte Schweizer Schwein grunzt, eine konservative Mehrheit. Der Gegensatz zwischen Rot und Schwarz führte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu regelrechten Dorfkriegen. In Willisau treffe ich Ida Glanzmann-Hunkeler, Nationalrätin und Vizepräsidentin der CVP Schweiz. Sie erzählt, dass noch ihr Vater, ein Gemeinderat, bisweilen nur unter Polizeischutz wählen konnte. Verbreitet war das Phänomen der «Wahlknechte»: Man stellte kurz vor den Wahlen Knechte ein, drückte ihnen die «richtige» Liste in die Hand - und entliess sie oft schon wieder am Abend nach dem Urnengang. Eine andere Taktik, die eher an Guerilla-Zustände denn an das Bild der schweizerischen Vorzeigedemokratie erinnert, bestand darin, Knechte der Gegenseite gefangen zu nehmen und zu verstecken. In vielen Dörfern existierte eine Art freiwilliger Apartheid. Die beiden politischen Lager hatten je ihr eigenes Restaurant, es gab zwei Musikvereine, zwei Turnvereine, zwei Schützenvereine - aber nur eine Kirche. Denn dies war das Spezielle am Luzerner Kulturkampf: Er verlief nicht nach konfessionellen, sondern rein nach politischen Kriterien. Am Sonntag bei der Predigt sassen die Feinde beisammen, und manch ein Liberaler tat noch katholischer als die Konservativen.
Die Kirche konnte aber auch Ort der letzten, der wörtlich finalen Zuspitzung sein. Zum Wallfahrtsort Werthenstein bei Wolhusen, berichtet der Mittelschullehrer, Schriftsteller und Träger des Innerschweizer Kulturpreises Pirmin Meier bei einem Herrgöttli (im Volksmund ein kleines Glas Bier), pilgerten manche Gläubige, um für ihre politischen Gegner den Tod zu erbeten. Sie waren zutiefst überzeugt, dass hinter dem Liberalismus der Teufel steckt. In Neuenkirch sprach man noch vor vierzig Jahren die Fürbitte: «Dass du die Feinde deiner Heiligen Kirche [lies: die Liberalen] demütigen wollest - wir bitten dich, erhöre uns!»
Heute, sagt Ida Glanzmann, während ich an einem granitharten Willisauer Ringli lutsche, der lokalen Guetsli-Spezialität, lache man über den teilweise grotesken politischen Eifer, der noch bis vor kurzem das gesamte Leben des Kantons durchdrang. Glanzmann kam 1995 in den Grossen Rat (Kantonsparlament), gleichzeitig mit den ersten Vertretern der SVP. Das Datum markiert den definitiven Abschied vom Luzerner Kulturkampf: Mit der Volkspartei kam eine dritte bürgerliche Kraft, die das alte Gegensatz-Gefüge sprengte. Dessen Auflösung spiegelt auch die Presselandschaft: Bereits 1991 hatten das liberale Luzerner Tagblatt und das konservative Vaterland fusioniert, 1995 ging der politische Zwitter mit den unabhängigen Luzerner Neusten Nachrichten in der Neuen Luzerner Zeitung auf.
Wie Ida Glanzmann beobachtet, hat der Auftritt der SVP Liberale und Christdemokraten gezwungen, «wieder mehr zu arbeiten». Mit der Lockerung der konfessionellen Bindungen ist gerade für die Konservativen die Hemmschwelle tiefer geworden, die SVP zu wählen. Bis 1987 besass die CVP eine absolute Mehrheit im Grossen Rat, mit einer gewissen Gönnerhaftigkeit überliess man seit 1959 in der «Luzerner Zauberformel» jeweils zwei Regierungssitze den Liberalen und einen der SP. Aktuell sind die Sozialdemokraten mit Yvonne Schärli in der (auf fünf Mitglieder verkleinerten) Regierung vertreten.
Die Vorsteherin des Justiz- und Sicherheitsdepartements nennt in ihrem Büro im Luzerner Regierungsgebäude - aussen wehrhafter Renaissancepalast, innen elegante USM-Haller-Moderne - zwei Gründe für die relative Schwäche der Sozialdemokraten im Kanton. Sie hänge einerseits mit der fehlenden Industrietradition zusammen, anderseits mit der enormen Breite der CVP. «Wir schaffen es einfach nicht», sagt Schärli, «den linken Teil der Christdemokraten abzuziehen.» Beliebte CVP-Frauen wie Judith Stamm politisierten derart links, dass sie kaum mehr den Bürgerlichen zugeordnet werden konnten. Den innerparteilichen Gegenpol nehmen markige Männer wie der derzeitige Regierungspräsident Markus Dürr ein. Er sagt, nicht ohne Stolz auf die konservative Tradition: «Mein Vater war ein KK (ein Katholisch-Konservativer), und ich sehe mich auch so.»
Dieses Sowohl-als-auch - ein Schuft, wer es als Weder-noch interpretiert - ist nicht nur typisch für die Luzerner CVP, sondern für den Kanton überhaupt. Eine offizielle Publikation preist Luzern als «Land der Mitte» eine Position, die den Kanton schon historisch-geografisch bestimmt: Er eröffnete den Innerschweizer Bergrepubliken den Zugang zum Mittelland und brachte ein städtisches Element in die Ureidgenossenschaft ein. Kennzeichnend ist die Mittellage aber auch für manche Gebiete der Politik, der Gesellschaft, der Kultur. Traditionelles und Zukunftsgerichtetes gehen hier locker zusammen. So hat das Entlebuch als erste Schweizer Region das Label als Unesco-Biosphärenreservat bekommen. Das Landstädtchen Willisau, Zentrum des sogenannten Hinterlandes, beherbergt neben einer starken Blasmusikszene seit Jahrzehnten ein avantgardistisch orientiertes Jazzfestival. Und mit dem Kultur- und Kongresszentrum (KKL) des Architekten Jean Nouvel hat sich Luzern in direkter Nachbarschaft zu See und Bahnhof einen Musik- und Businesstempel gebaut, von dem Zürich nur träumen kann.
«Halb Italien, halb Entlebuch»
Die Wirtschaftsförderung präsentiert Luzern auf ihrer Homepage als Kanton «im Aufbruch». Das klingt etwas floskelhaft, trifft aber durchaus zu. Jahrzehntelang Steuerhölle und Defizitgenerator, hat Luzern heute die Finanzen im Griff. Bei den juristischen Personen steht es sogar exzellent da. Es hat die tiefsten Holdingsteuern der Schweiz und plant weitere Senkungen. Obwohl das Umfeld mit den Tiefsteuerkantonen Nidwalden, Obwalden, Zug und Schwyz schwierig ist, findet auch ein Zustrom von Privaten statt. «Zürich ist relativ voll, Zug ist relativ teuer», fasst der Direktor der Wirtschaftsförderung, Walter Stalder, die Situation zusammen. Die Grundstückspreise sind hier erheblich tiefer, und mit der Eröffnung der Autobahn A4 durchs Knonauer Amt nach Zürich wird sich die verkehrstechnische Lage 2010 markant verbessern.
Veränderungswille demonstrieren die Luzerner mit einer unter dem Namen «Luzern ’99» gestarteten Staatsreform. Parlament und Regierung wurden verkleinert, die obersten Gerichte zusammengelegt, die Verwaltung neu strukturiert, die Steuern gesenkt, die Kantonsfinanzen saniert. Für Viktor Baumeler, bis im letzten Mai Staatsschreiber und derzeit Präsident der SRG Deutschschweiz, ist das Ja zu den Reformen «heute noch eine Sternstunde». Als erster Kanton hat Luzern eine grosse Gemeindefusion angeregt, eben haben sich in meinem Heimatort Hitzkirch sieben Gemeinden zu einer einzigen zusammengeschlossen.
Auch dies ist ein klassischer Zug der Luzerner: Sie sind dem Staat gegenüber freundlich eingestellt, anders etwa als die obrigkeitskritischen Schwyzer. Überhaupt zeichnet sich die Luzerner Mentalität durch eine gewisse Gelassenheit, ja Lässigkeit aus. Es komme ihm vor, schrieb der Schaffhauser Johann Georg Müller schon vor 200 Jahren, dass die Luzerner «nicht bloss produzieren, sondern sich hinsetzen und das Produzierte geniessen».
Verschiedene Bauwerke, die Cafés und Restaurants an der Reuss sowie die Lockerheit ihrer Bewohner verleihen der Kantonshauptstadt einen italienischen Zug; «Florenz des Nordens» nennt man sie auch. Hinzudenken muss man sich einen kräftigen Schuss Rustikalität. Exemplarisch das Rathaus an der Reuss: Über drei Renaissancegeschosse wölbt sich das Dach eines Bauernhauses - eine einzigartige, eben typisch luzernische Kombination. Paul Rosenkranz, Autor mehrerer Bücher über den Kanton, sieht darin den «steingewordenen Ausdruck des Menschenschlages, der hier wohnt: halb Italien, halb Entlebuch . . .».
Bei allen Versuchen, Anschluss an die Moderne zu finden - wie sie sich jüngst etwa in einer verstärkten wirtschaftlichen und politischen Anlehnung an den Aargau und an Zürich zeigen -, bleibt Luzern seinen kultur-historischen Wurzeln treu. Seine Fasnacht ist, im Gegensatz zu der fast militärischen Zucht der Basler Trömmeler- und Flötchen-Cliquen, ein vulkanischer Ausbruch barock-katholi-scher Lebensfreude. Ich weiss von einer Landsfrau, die im Kanton Zug verheiratet ist und in der Fasnachtszeit für ein paar Tage in ein Luzerner Hotel zieht - ohne (ihren) Mann. Die Erinnerung an unruhige Totengeister und andere Formen der Volksgläubigkeit leben mancherorts weiter. Nicht nur darum ist die Bezeichnung «magisches Luzern» zu so etwas wie einem Markennamen geworden.