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von Bill Shankly » 14. Jun 2005, 06:52
Die Clowns der Business-Class
Ortstermin: In München eröffnet das modernste Stadion der Welt - ein Schaukasten für die neue Soziologie des Fußballs.
In der 66. Minute passiert das, was auf keinen Fall passieren durfte. Im Mittelrang Nord rufen einige Kölner Fans der Nationalmannschaft: "Bayern, wir hören nichts."
War also alles vergebens? Sind 340 Millionen Euro für ein neues Münchner Stadion in den Sand gesetzt? Wurde nicht die Allianz-Arena gebaut, damit die Stimmung steigt? Das alte Olympiastadion galt als zu weitläufig, um Hexenkessel sein zu können.
Jetzt steht in Fröttmaning dieses pralle Stadion - ohne Laufbahn, mit steilen Rängen - und leuchtet stolz in die Nacht, während der FC Bayern München beim Eröffnungsspiel die deutsche Nationalmannschaft auseinander nimmt. Und von den Fans hört man nichts?
Der Vorwurf ist ungerecht, jedenfalls für den Unterrang Süd und den Unterrang Nord. Denn dort, wo man Trikot trägt, wo es wüst und bunt zugeht, dort muss sich niemand mangelnde Leidenschaft vorwerfen lassen. Sie singen und schreien, sie tanzen den großen Tanz, intensiver als im Olympiastadion, aber man lässt sie allein.
"Bayern", brüllt der Unterrang Süd.
"Bayern", echot der Unterrang Nord.
Die anderen hören zu.
So wird es manchmal ganz still, weil die Fans erschöpft sind oder frustriert, und was ist trauriger als ein stilles, volles Stadion?
Die meisten WM-Arenen sind nun fertig, und sie sind schön und praktisch, aber sie zeigen auch mehr als die alten, dass sich etwas verändert hat bei den Zuschauern. Und weil in München die Gegensätze besonders stark sind, präsentierte sich die Allianz-Arena am Dienstagabend auch als Schaukasten für die neue Soziologie des Fußballs.
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat Nationen "Erregungsgemeinschaften" genannt. Sie finden Gemeinsamkeiten nur noch über das, was sie aufregt, und das ist häufig der Fußball. Treffpunkt der Erregungsgemeinschaft ist das Stadion.
In München gibt es jetzt die Zweieinhalbetage. Sie liegt zwischen Mittelrang und Oberrang, ein schmales Zwischengeschoss, ein gläserner Schlitz im Stadion. Hier sind rundum Logen. Man sieht Leute in gedämpftem Licht tafeln, die Glastüren stehen bei gutem Wetter offen.
"Ihr seid nur zum Fressen hier", singen die Unterränge Süd und Nord kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit.
Mit der Loge zerfällt die Erregungsgemeinschaft in Lager. Es gab auch früher die Trennung zwischen Arm und Reich, aber es gab die gemeinsame Erfahrung kalter Füße im Winter und, ganz früher, die Begegnung am Bierstand in der Halbzeit. In der Allianz-Arena hat sich die Welt des Geldes vom Rest abgeschottet. Bequemlichkeit geht mehr denn je vor Zugehörigkeit.
"Scheiß VIPs, scheiß VIPs", schreien die Fans in der 54. Minute. Es wird eine Welle versucht, La Ola, aber sie verebbt schon an den Ecken zum Unterrang West. Hier ist der sogenannte Business-Bereich, der das Stadion endgültig auseinander reißt.
Man sitzt nicht mehr in langen Reihen, sondern zu zweit nebeneinander wie in der Business-Class im Flugzeug. Zwischen den Paaren liegen breite Gänge. Wer hier sitzt, hat nur noch Bezug zum Nachbarn, nicht mehr zu den Zuschauern insgesamt. Zweisamkeit ist wichtiger als der allgemeine Tumult. Das Stadion wird zur Kulisse für die Vertragsanbahnung.
Deshalb gibt es im Business-Bereich auch keine Erregung. Lehmann rempelt Schweinsteiger - alles pfeift, nur nicht der Unterrang West. Das Publikum zerfällt in Teilnehmer und Beobachter. Die einen riskieren Liebe und Hass, die anderen vergewissern sich ihrer Bedeutung im Geschäftsleben.
Der Ruf "Steht auf, wenn ihr Bayern seid", verfängt auf den kunstledernen Sesseln des Business-Bereichs kaum. Niemand ist Bayer im gemeinten Sinn. Man ist Gast der Allianz und trägt eine blaue Kappe mit Firmenlogo zum dunklen Anzug oder zum Lederjanker. Andere, im ebenfalls weitgehend stillen Unterrang Ost, haben sich weiße Plastikjacken übergezogen und sitzen so, dass sie ein weißes T mit Pünktchen bilden, das Logo der Telekom. Für die Weltmeisterschaft 2006 werden nur noch ein Drittel der Karten an Fans verkauft. Der Rest geht an Firmen.
"Ihr macht unseren Sport kaputt", schreien die Fans. Sie spüren, dass sich etwas dreht. In den alten Stadien waren die VIPs Gäste in der Welt der Fans, die das ewig Heikle ihrer sozialen Lage in Leidenschaft umsetzen können. Die Allianz-Arena mit ihren Logen, Lounges, Business- und Sponsoren-Bereichen sowie der Ladenzeile macht die Fans allmählich zu Gästen in der abgeklärten Welt der VIPs.
Anders gesagt: Sie werden zu stürmischen Clowns im Fußballzirkus, zum Teil eines Unterhaltungsprogramms für die Business-Class.
Im Oval des Olympiastadions war jeder Zuschauer zudem Teil eines Ganzen. Die Ränge und stumpfen Winkel der Allianz-Arena schaffen Zonen des Gegensatzes und des Aneinander-vorbei-Sehens. Das neue Stadion passt zu einer Gesellschaft, die sich wieder in Schichten fraktioniert. Es ist ein ehrliches Stadion.
Ein gemeinsames Erleben gibt es erst nach dem Spiel - im Stau vor der Ausfahrt des gigantischen Parkhauses. Im Zustand angespannter Bewegungslosigkeit, dem deutschen Zustand schlechthin, ist man wieder Erregungsgemeinschaft.
DIRK KURBJUWEIT
Quelle: Spiegel; Ausgabe 25.2005
COYI!