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von Lucerna » 4. Apr 2008, 00:31
General «Alles egal»
Von André Grieder
Es stört ihn nicht, wenn die Spieler rauchen, und meistens ist er beim Einkaufen, wenn sie ihn erreichen möchten. Die Matchvorbereitung eröffnet Köbi Kuhn mit der Floskel: «Es gibt nichts Neues.» Sogar sein Vorgesetzter gestand, dass der Nationaltrainer 2006 kurz vor der Entlassung stand.
Nichts mehr zu sehen von stilsicherem Kombinationsfussball. Vor zwei Jahren begeisterten die Schweizer mit Passfolgen über mehrere Stationen und herausgespielten Chancen. Sie dominierten zeitweise Italien, den späteren Weltmeister, waren Frankreich ebenbürtig, dem nachmaligen Vizeweltmeister. Das Team von Köbi Kuhn war herangerückt an die grossen Fussballnationen. Auch das Ausland zollte ihm Respekt.
Vergangene Zeiten. Seit einem Jahr schockiert die Schweiz mit Befreiungsschlägen Richtung Gegner und Ballverlusten in der eigenen Hälfte. Das 0:4-Debakel gegen Deutschland vergangene Woche war die vierte Niederlage in Serie. Das Ausland findet es bestenfalls noch amüsant, dass die Schweizer den EM-Titel-Gewinn anvisieren.
Aber Köbi Kuhn sitzt – branchenfremd – fest im Sattel.
Die Fussballexperten von Blick bis Tages-Anzeiger kritisierten nach dem Test gegen Deutschland wohl akribisch seine taktischen Fehlgriffe und Coachingmängel, wollten uns aber schliesslich weismachen: Köbi ist trotzdem der Richtige! Er könne ja nichts dafür, dass Nkufo langsamer sei als Gomez; Senderos irrlichtere, wenn Müller ihn nicht führe; Captain Frei nach langer Verletzungspause zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei und seine Führungsaufgaben nicht erfüllen könne.
Nein, nein, Köbi wird’s irgendwie schon richten. Sind ja noch rund siebzig Tage bis zur EM.
Zweckoptimismus? Naivität? Aber, nein: Omertà!
Lob des Klumpfussballs
Viele Fussballjournalisten sind sich einig, dass Kuhn eigentlich ersetzt gehört. Das verschweigen sie freilich. Denn alle finden, dieser sympathische Mensch, verdienstvolle Trainer und Schweizer des Jahres 2006 habe es verdient, unsere Nationalelf auch an der EM zu führen. Man könne ihm doch keine Entlassung antun. Also schreibt der Journalist schön, was ihn eigentlich ärgert. Droht ein kritischer Geist die Omertà zu durchbrechen, bittet ihn Kuhns Berater Erwin Zogg um ein klärendes Gespräch mit dem Nationalcoach. Auf dass auch diese Ausnahme wider die fachliche Überzeugung den passionierten Lethargiker schützen möge. Vielleicht hofft ja dieser kritische Geist insgeheim ebenfalls auf die Unwägbarkeit des Fussballs. Dass zum Beispiel Ludovic Magnin im EM-Auftaktspiel gegen Tschechien nach ein paar Minuten Richtung gegnerischen Strafraum kurvt und den Ball ins entfernte Lattendreieck hämmert. Wie der Deutsche Philipp Lahm im WM-Eröffnungsspiel gegen Costa Rica. Dann, ja dann wäre wohl auch für die Schweiz alles möglich. Oder nicht?
«Lassen wir also Kuhn ruhig weiterwirken», sagen sich seine Sympathisanten, denn nicht einmal José Mourinho, Alex Ferguson oder Ottmar Hitzfeld könnten schliesslich den Erfolg garantieren. Zudem betonte kürzlich sogar Otto Rehhagel, Trainer des Europameisters Griechenland, nach dem Sieg in der Testpartie gegen Portugal: «Das kannst du alles vergessen. Das gilt vor dem ersten EM-Spiel nichts mehr.» Im Umkehrschluss folgt daraus: Das Debakel der Schweiz gegen Deutschland kann man vergessen. Es zählt einzig der 7. Juni.
Dergleichen Resthoffnung bleibt im chaotischen Fussball immer. Auch wenn in den Redaktionen die Meinung vorherrscht, Köbi sei verbraucht, er könne die Mannschaft nicht mehr weiterbringen, hätte schon nach der WM abtreten sollen, spätestens aber nach dem 1:3 vor einem Jahr gegen Deutschland.
Er redete damals den Klumpfussball seines Teams schön und warf später unschön den damaligen Captain Johann Vogel aus dem Kader. Der Verband diagnostizierte beim Coach Kommunikations- und bei den Spielern Konditionsdefizite, verpflichtete Adrian Knup als Teammanager und Otmar Keller als Fitnesscoach.
Knup entlastet jetzt den Antirhetoriker Kuhn, indem er die Pauseninterviews übernimmt und unter den Spielern für gute Stimmung zu sorgen versucht. Keller, ein ausgewiesener Fachmann, versah die Spieler mit einem individuellen Trainingsplan. Gegen die Deutschen wirkten die Schweizer trotzdem athletisch rückständig. «Die Deutschen waren wohl grösser und schwerer», sagt Keller, trotzdem könne man nicht von physischem Manko reden. «Die Schweizer haben international gute Werte, da wir quer vergleichen können.» Der langsam wirkende Senderos zum Beispiel sei schnell, vielleicht lediglich ein bisschen zu wenig agil. Das allerdings fiel in den Spurtduells von Senderos gegen Deutschlands Klose und Gomez jedem auf.
Nach dem 1:3 gegen Deutschland hatte Köbi Kuhn vor einem Jahr versprochen, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Im 0:4 gegen den gleichen Gegner war vergangene Woche davon nichts zu sehen. Immerhin sprach Kuhn danach von «amateurhaftem Verhalten» seiner Mannschaft und ihrer «Unterlegenheit in allen Belangen». Für Schönredner Kuhn sind das harte Worte, die sich aber auch gegen ihn selbst richten. Verbandspräsident Ralph Zloczower sagt heute trotzdem: «Köbi Kuhn ist auch an der EM unser Trainer.» Derselbe Zloczower, dem im trauten Kreis von Bundesrat Samuel Schmid und Chefredaktoren diverser Schweizer Blätter im Berner Hotel «Bellevue Palace» im Oktober 2007 rausrutschte, dass Kuhn vor einem Jahr am Rande der Entlassung gestanden habe. Bestätigen würde er das natürlich nie, aber Indizien dafür gab es schon damals zuhauf. Nach der Niederlage gegen Deutschland höhnten die Medien: «Fürchterlich!» (Aargauer Zeitung); «Horror-Show» (Blick); «Dieser Mannschaft droht der Zerfall» (Tages-Anzeiger). Sogar der von Amtes wegen diplomatische Zloczower redete plötzlich von «unannehmbarer Vorstellung» und kündigte an, vom Coach hören zu wollen, wie er dem «Abwärtstrend» begegnen wolle.
Verband verpasste Entlassung
Statt einen Trainerwechsel zu wagen, beschränkte sich der Verband auf Kosmetik, verpflichtete Knup sowie Keller, unterzog sich ebenfalls der Omertà – und verpasste die Chance, Ottmar Hitzfeld zu engagieren, als dieser noch in Engelberg Golf spielte und seinen Zwischenruhestand genoss. Hitzfeld heuerte in München an, will mit Bayern noch ein paar Titel holen und die traditionelle Abschlusstournee nach Asien geniessen, bevor er das Schweizer Nationalteam übernimmt. Christian Gross, die meistdiskutierte Zwischenlösung, ist zu clever, ausgerechnet jetzt einzuspringen. Ein anderer Messias ist nicht in Sicht.
Nein, nein, wir fahren mit Köbi Kuhn an die EM. Es spricht wenig dafür, dass das gutgeht.
Kuhn hat zweifellos Qualitäten. Der ehemalige Spitzenspieler versteht den Fussball und seine Akteure. Er übergibt ihnen Verantwortung und gewährt ihnen Freiheiten. Statt die im Hotelzimmer klandestin rauchenden Alex Frei und Jörg Stiel zu bestrafen, hockte er sich dazu. Nach dem Argentinier Enzo Trossero wirkte Kuhns Verständnis für die Eigenheiten und Ansprüche der Spieler befreiend. Das zahlte sich aus, weil auf dem Platz noch viel internationale Erfahrung vorhanden war. Mit Johann Vogel, Patrick Müller, Ricardo Cabanas, Raphaël Wicky, Pascal Zuberbühler. Diese Führungsspieler vereinten 343 Länderspiele auf sich, waren auslanderprobt und hatten manches Europacup-Spiel absolviert. Sie kompensierten die Kommunikationsschwäche ihres Coachs und schweissten das Team zusammen. Jetzt steht im Tor Diego Benaglio, und im Zentrum versuchen die ebenfalls jungen Gökhan Inler und Gelson Fernandes Einfluss aufs Team auszuüben. Das sind sehr talentierte Spieler, doch sie alle haben wenig Erfahrung und sind eher stille Typen.
Vogel störte die «Schulreisli»
«Kuhn ist ein Revoluzzer. Er hat in den letzten zwei Jahren seine Mannschaft total verjüngt», sagt FC-Basel-Trainer Christian Gross mit ironischem Unterton. Doch jetzt fehle dem Team «mentale Stärke». Weil Kuhn sich von Leistungsträgern getrennt habe, müsse er nun die richtige Mischung finden, die Zeit der Experimente sei vorbei.
Es fehlt vor allem ein Spieler wie Johann Vogel, den Kuhn vergangenes Jahr schasste. Vogel war wegen seiner Ballsicherheit und seiner defensiven Ausrichtung sehr wichtig für das Kombinationsspiel der Schweizer und die Stabilität der Abwehr. Und er war unbequem, riet den Partygängern im Team, statt im Zürcher «Kaufleuten» die Nacht durchzutanzen, mehr zu trainieren. Vogel war einer, der die Schuelreisli-Atmosphäre während der Nati-Zusammenzüge störte. Die jungen, unerfahrenen Spieler wagen das nicht. Valon Behrami monierte sie wenigstens einmal (Weltwoche, Nr. 13/2007) und wurde dafür vom Verband abgestraft. Andere beklagen sich bei ihren Beratern darüber, dass die Tage in Feusisberg beelendend seien, fast nur aus Fototermin, Sponsorentreffen, Anzugprobe, Jassen und Gamen bestünden; dass kaum trainiert werde; dass ihnen der Coach in der Hotel-Drehtüre mitteile, ob sie spielen; dass Jungstar Eren Derdiyok ungestraft mit dem Handy am Ohr auf den Trainingsplatz marschiere; dass Kuhn die Matchvorbereitung mit der wenig motivierenden Floskel beginne, es gebe nichts Neues mitzuteilen; dass sie ohne klar umrissene Aufträge ins Spiel gingen; dass für eine Systemänderung ein einziges einstündiges Training nicht genüge; dass Köbi Kuhn schwer zu kontaktieren sei, weil immer seine Frau Alice das Telefon abnehme und ihren Mann damit entschuldige, er sei gerade am Einkaufen.
Klar, nach vier Niederlagen in Serie fände man auch bei Weltklassetrainern wie Alex Ferguson oder José Mourinho Mängel, würde mancher Spieler seinen Frust mit ähnlichen Lächerlichkeiten verbalisieren.
Auffallend am Fall Kuhn ist jedoch, wie verbissen die Spieler ihren Coach gegen aussen in Schutz nehmen und ihre Eigenverantwortung herausstreichen. Als ob sie akzeptiert hätten, dass Kuhn halt ihr Väterchen Trott sei und sie von ihm nichts Neues, Motivierendes zu erwarten haben. «Das Team müsste mehr machen, müsste mehr Eigenverantwortung übernehmen», sagt Pascal Zuberbühler, «Köbi Kuhn wird sich nicht ändern, wird nicht plötzlich die Spieler an die Wand stellen und anschreien.» Captain Alex Frei findet die Kritik am Trainer «eine Frechheit» und verspricht im Sonntagsblick, dass die Schweiz am 7. Juni «hundert Prozent parat» sein werde – weil «die Führungsspieler als Beispiel vorangehen und die anderen mitziehen werden». Man werde und müsse sich «gemeinsam zusammenraufen». Sogar Experten wie Christian Gross und GC-Sportchef Erich Vogel zählen vor allem auf EM-euphorisierte und speziell motivierte Akteure.
Defätistische Gleichgültigkeit
Das hat mehr mit frommem Glauben zu tun als mit Professionalität. «Köbi kann nur noch den Rosenkranz beten», urteilt Angelo Semeraro, Johann Vogels Berater. Natürlich ist er parteiisch, hat er Kuhn die Ausbootung seines Mandanten nie verziehen. Doch Semeraros Bonmot hat etwas für sich. Im Umfeld des Schweizer Nationalteams greift eine defätistische Gleichgültigkeit um sich. Alle scheinen sich abgefunden zu haben mit dem amateurhaften Zustand auf und neben dem Rasen. Selbst wenn er für jeden aufmerksamen Beobachter sichtbar ist. Als Deutschlands Lukas Podolski sich für die Einwechslung gegen die Schweiz warm lief, machte ihm ein Assistent von Bundestrainer «Jogi» Löw jede Übung vor. Der Schweizer Ersatzspieler Blaise Nkufo trabte derweil einsam und lustlos zwischen der Pausenattraktion eines EM-Sponsors herum.
Es ist leider nicht nur diese scheinbare Nebensächlichkeit, die wenig Gutes für das EM-Abenteuer der Schweiz verspricht. Schwerer wiegen könnten Köbi Kuhns mangelnde Matchvorbereitung und sein unentschlossenes Coaching. Nach dem 0:0 im WM-Qualifikationsspiel gegen die Ukraine hatte er lange auf der Bank verharrt und vor sich hin gestarrt. Dann erst trat er zu den Spielern und versuchte die Penaltyschützen zu bestimmen. Während ein Trainer wie Australiens Guus Hiddink das sehr entschlossen mit einer Liste tat, die jede Variante voraussah, improvisierte sich Kuhn durch die möglichen Schützen. Der Rest begann mit einem rasant züngelnden Marco Streller und endete mit drei verschossenen Elfmetern.
Gegen Deutschland testete Kuhn ein neues System mit zwei Spitzen und vier Mittelfeldspielern in Rautenform. Ist es gescheit, gegen diesen Gegner wenige Wochen vor EM-Beginn zu experimentieren?
Frage an den Schweizer Urs Siegenthaler, der als Deutschlands Cheftaktiker amtet.
Er lacht und entgegnet, er wolle nichts sagen, er habe das Spiel auch gar nicht live gesehen. Man hakt nach: «Hat Köbi Kuhn mit seiner Taktik den Deutschen in die Karten gespielt?» Siegenthaler lacht jetzt lauter und sagt gar nichts mehr.
Man legt seine eigenen Gedanken aus: «Klar darf Kuhn Tranquillo Barnetta hinter den Spitzen testen. Aber er hätte das Experiment spätestens in der Pause abbrechen müssen, statt ein weiteres Beispiel seiner Unentschlossenheit zu liefern.»
Nun prustet Siegenthaler nur noch vor sich hin und wiehert dazwischen: «Sehr schön, in der Trainerausbildung hätte ich Sie dafür mit einer Fünf belohnt.»
«Apropos Trainerausbildung, Herr Siegenthaler, Sie waren Kuhns Lehrer. Wie war er denn so?» Jetzt hat der Cheftaktiker der Deutschen genug: «Schauen Sie, ich habe beim Deutschen Fussball-Bund einen Superjob.» Es sollen sich heimische Experten kritisch zur Schweizer Nationalmannschaft äussern.
Philosophie der Grautöne
Das tun sie aber nur hinter vorgehaltener Hand. Die Deutschen sind nicht nur fussballerisch professioneller, sondern auch in ihrer Kritiklust. In der Schweiz pflegt man lieber das Kollegialitätsprinzip, statt Klartext zu reden. Bei Köbi Kuhn fällt das besonders leicht. Ihn muss man einfach mögen. Er ist authentisch, hat Humor und tränende Augen, wenn sein Team versagt. Titelt der Blick «Köbi, du Wurst», wirkt dieser Satz eines Fans wie ein freundschaftlicher Tadel und nicht wie bösartige Kritik. Köbi ist einer von uns allen. Der Büezer mag seine Bescheidenheit, der Bankdirektor seine Genügsamkeit und der Intellektuelle seine Authentizität. Köbi Kuhn kann man nicht hassen, höchstens bemitleiden. Anders bei Arthur Jorge. Als der Portugiese Frauenschwarm Alain Sutter und Tormaschine Adrian Knup aus dem Kader für die EM 1996 kippte, brandete diesem schnauzbärtigen Intellektuellen schweizweit eine Hasswelle entgegen. Dabei hatte er durchaus stichhaltige Argumente für den Verzicht auf Sutter und Knup.
Köbi Kuhn indessen wird selten konkret. Er betont immer wieder, dass Kritik intern geübt werde, und flüchtet sich gerne in Halbphilosophisches. Es gebe für ihn nie nur Schwarz oder Weiss. Es gebe immer Grautöne, auch im Fussball. Im Interview mit der Sonntagszeitung sagte er, eigentlich interessiere ihn die Kritik nach dem 0:4-Debakel gegen Deutschland nicht, er habe gut geschlafen und werde das auch die nächsten Nächte tun. Es komme, wie es komme, und dann heisse es, das Beste daraus zu machen. Hier spricht ein Konservativer, der als Fussballer viel Erfolg hatte, als Versicherungsagent in Konkurs ging, als Trainer lange untendurch musste und als Ehemann schon mal vor verschlossener Türe steht, wenn er zu spät nach Hause kommt.
Christian Gross ist ehrgeizig, Arsène Wenger kultiviert, Ottmar Hitzfeld schlitzohrig – Köbi Kuhn ist bieder und rechtschaffen. Das passt zur Schweizer Mannschaft. Portugal hat Cristiano Ronaldo, Tschechien Rosicky und die Türkei Emre. Das sind nicht nur Weltklassefussballer, sondern auch kantige Persönlichkeiten. Alex Freis Kantigkeit wirkt aufgesetzt, und fussballerische Weltklasse hat er auch nicht vorzuweisen. Nur wenn die Schweiz zurückfindet zum sicheren Kombinationsstil früherer Tage, kann sie an der EM die Gruppenspielphase überleben.
Wenn nicht, dann sind die Spieler schuld. Und wenn die Schweiz Europameister wird, wohl auch.
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