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von Thunder » 9. Dez 2005, 14:44
Interessanter Beitrag im Facts betr. der WM 06:
Und der Fan guckt in die Röhre
Von David Wiederkehr
1510 Words
08 December 2005
FACTS
Zur Fussball-WM in Deutschland zimmert sich die Fifa die perfekte Kulisse. Auf den Rängen sitzen die Schönen und die Reichen. Der Fan, das ungeliebte Wesen, darf die Ereignisse draussen auf der Grossleinwand verfolgen. Gnädigerweise muss er dafür nichts bezahlen.
Von David Wiederkehr
Die dümmste Idee von allen war der Löwe. Goleo VI heisst er, Hosen trägt er keine, und besonders sympathisch wirkt er auch nicht. Trotzdem ist er das Symbol der Fussball-WM in Deutschland - eine niedliche Bezeichnung wie Maskottchen hat Goleo nicht verdient. Die Fussballfans hassen ihn.
Nicht nur ihn. Vielmehr nervt sie fast alles rund um diesen Anlass in Deutschland, der in Sachen Gigantismus sämtliche bisherigen Weltmeisterschaften in den Schatten stellt: Sicherheitsmassnahmen wie noch nie, Schutzkorridore rund um die Stadien, Hooligan-Datenbanken, Rayonsperren, Blockfahnenverbot und auch keine Fahnen mit zwei Stangen, die so genannten Doppelhalter. Die Fifa hat es sich mit den Fans gründlich versaut.
Der gröbste Ärger: Wegen des streng reglementierten Ticketverkaufs konnten pro Person und Spiel nur vier Karten bestellt werden. Somit verhindert die Fifa die Bildung eines Fanblocks, der an einem Fussballspiel für die Stimmung verantwortlich ist. Unter dem Motto «Eure WM zerstört unsere Fankultur» fand jüngst in Deutschland ein Protestmarsch statt. Von wegen «zu Gast bei Freunden» - der Fan steht im Abseits.
3,37 Millionen Eintrittskarten sind theoretisch verfügbar für die 64 Partien, sechsmal so viele wurden bislang bestellt. Aber gerade mal 27,1 Prozent der Tickets können auch tatsächlich gekauft werden: 913 000. Der Rest geht an Sponsoren und deren Arbeitnehmer, Partner, TV-Rechteinhaber, Politiker und die Verbände, die ihrerseits wiederum die Sponsoren bevorzugen. Fifa-Präsident Sepp Blatter sagt: «Die Sponsoren ermöglichen die WM, also bieten wir ihnen einen geeigneten Rahmen.» Wohl hat er Recht, aber: Mit einem Volksfest in den Stadien wird diese WM nichts zu tun haben.
Den Weltverband braucht das nicht zu kümmern. Die meisten Spiele werden ohnehin ausverkauft sein und die Auslas-tung so hoch wie nie in der Geschichte. Die Feste aber finden auch in Europa anderswo statt. Dort, wo Leidgeplagte gemeinsam in die Röhre gucken: vor Grossleinwänden auf öffentlichen Plätzen, in Kneipen und Pubs, zu Hause vor dem Fernseher. Als ob die WM erneut in Fernost stattfände.
Jeder Verband, mit Ausnahme des Deutschen Fussballbundes, erhält acht Prozent der Sitzplätze seiner Spiele. Im kleinsten Stadion, demjenigen in Nürnberg, sind das 2950, im grössten, dem Berliner Olympiastadion, 5280. Länder wie die Elfenbeinküste, Costa Rica oder Trinidad und Tobago stellt das vor keine Prob-leme beim Vorverkauf. Anders aber England, Frankreich und bestimmt auch die Schweiz. Der Schweizerische Fussballverband dürfte rund ein Drittel der verfügbaren Tickets in den freien Vorverkauf bringen. Den Rest wird er den Sponsoren zur Verfügung stellen und an die offiziellen Reisepartner vermitteln. Daneben sind wenige hunderttausend Karten weiterhin global im Internet erhältlich.
Kein Sport für Proletarier
An die EM 2004 nach Portugal waren fast 10 000 Schweizer Fans gereist, ebenso viele ans WM-Qualifikationsspiel im Frühling nach Paris und im Herbst 5000 nach Irland. Beeindruckende Zahlen für Schweizer Verhältnisse. Und sie dürften wegen der momentanen Euphorie klar übertroffen werden, wenn im Januar die Tickets in den Verkauf gelangen. Frühestens 2018 dürfte wieder eine Weltmeisterschaft in diesen Breitengraden stattfinden.
Ein grosser Teil der Fans wird die WM 2006 verpassen und schäumt darob vor Wut. Im Gastgeberland Deutschland vor allem, aber genauso in der Schweiz. Besonders die Fans, die sich Länderspiele auch ansehen, wenn der Gegner Nordirland oder Färöer heisst. Sie verpassen die WM vor Ort, weil die Modefans, wie sie sie nennen, mehr Glück hatten. Spätestens seit den Qualifikationsspielen in Bern gegen Frankreich und gegen die Türkei ist das Problem in der Schweiz akut - jeweils 100 000 Bestellungen lagen vor für die 15 000 Eintrittskarten, während Sponsoren und Funktionäre ebenso viele erhielten. Doch Fussball ist halt längst nicht mehr das Spiel für Proletarier, sondern ein Event für die Schönen und Reichen. An der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz wird sich die Kluft wegen der kleineren Stadien noch verstärken.
Denn: Die Verbände wollen sie gar nicht, diese Fans, die auch an Länderspielen einen Block bilden, für Stimmung sorgen. Ihr Image ist schlecht. Lieber Familien statt Ultras, Wettbewerbsgewinner statt Schreihälse. Lieber Fähnchenmeer statt Doppelhalter. Das tönt dann zwar künstlicher und weniger gut im Stadion, und der Speaker muss nachhelfen, aber es sieht besser aus, ist friedlich, gesittet und geordnet. Und bei den Nationalhymnen pfeift dann auch keiner mehr.
Heidi Klum - ein Affront für die Fans
Einen Vorgeschmack liefert die Gruppenauslosung an diesem Freitag in Leipzig. Heidi Klum moderiert, und das Model gesteht ehrlich, dass sie Fussball gar nicht sonderlich interessiere. Muss es auch nicht, findet die Fifa, gut aussehen reicht. Für die harten Fans ein Affront, goutieren diese doch nicht einmal, wenn das offizielle Turnierlied von jemandem gesungen wird, der mit dem Sport nicht viel am Hut hat: wie Nelly Furtado mit «Força» an der Euro 04 in Portugal.
Bei all der Häme, die Fifa tut nichts anderes als viele Vereine: Sie zimmert sich die perfekte Fangemeinde. Während in der Schweiz einzig Partien des Nationalteams und Heimspiele des FC Basel einigen Glamour versprühen, grassiert in Europa längst die kommerzielle Sportkultur aus den USA. Viele VIP-Logen, keine Stehplätze. Wer stört, wird ausgesperrt. Nie wurden Stadionverbote schneller erteilt als heute, selbst bei Bagatellvergehen. Dieses paranoid anmutende Vorgehen ist Teil der kompromisslos gewordenen Repression gegen Fussballfans. Allerdings: Dass diese nicht unschuldig sind an der Entwicklung, ist nicht zu leugnen.
Bei Schalke, wo den Gegner im Parkstadion einst die Hölle erwartete und Schlachtgesänge drohend aus den Lautsprechern jaulten, dudelt nun in der neuen Arena Ballermann Wolfgang Petry. Manchester United trieb die Ticketpreise in ungeahnte Höhen und die jahrelangen - und zuweilen auch unbequemen - Fans aus dem Stadion. Sie waren so erzürnt, dass sie einen Gegenklub gründeten. Ebenso in Salzburg, wo Getränkeriese Red Bull die Austria übernommen und deren Logo und Trikotfarben geändert hatte. In der Bundesliga heissen die Stadien AOL-Arena, Signal Iduna Park und Rhein-Energie-Stadion. Die Fans müssen ihre Transparente bewilligen lassen, die sie bei Auswärtsfahrten mitbringen wollen - mancherorts samt Texten. Dutzende von Sicherheitskräften nisten sich jeweils im Fanblock ein.
Fussballfans sind Traditionalisten, und sie schlucken einschneidende Veränderungen wie diese nicht, ohne zu murren. Gerade der Fall von Salzburg demonstrierte dies eindrücklich: Europaweit (selbst bei den Gegnern in Österreich und an Soccer-Spielen in den USA) hingen in den Fanblocks während Wochen Transparente, die das Verhalten von Red Bull torpedierten, meistens mit dem Zusatz: «Stoppt den modernen Fussball.»
Mehr als herablassende Bemerkungen bekommen sie für ihr Aufbegehren nicht zu hören. Als sich die Fans von Bayern München empörten, dass die neue Allianz-Arena zu eng bestuhlt sei, sagte Manager Uli Hoeness: «Die haben Sorgen. Die sollen mal nach Pakistan gehen und den Winter abwarten.» Die Funktionäre ergötzen sich an den bunten Choreografien in den Stadien und sonnen sich im Lichte der Fans, wenn sie dem Klub Ansehen verschaffen. Respekt haben sie keinen für sie übrig.
Es sei denn, sie bringen mehr Geld in die Kasse als den üblichen Unkostenbeitrag für die Eintrittskarte. Denn es ist klar: Nur mit Fans alleine lässt sich der Fussball heute nicht mehr finanzieren. Gerade die Bayern beweisen, welche Sorte ihnen am liebsten ist. Klubsponsor T-Com bezahlt 160 Saisonkarten auf bestimmten Plätzen, damit deren Inhaber an jedem Heimspiel ganz in Weiss gekleidet und in bester TV-Optik das Logo des Mobilfunk-Betreibers darstellen. Gut möglich, dass sie auch an der WM da sitzen. Einem WM-Sponsor wie der Deutschen Telekom erfüllt man alle Wünsche.
In zwei Punkten zeigte sich die Fifa gütlich, wenn auch erst nach zähen Verhandlungen: Fernsehbilder dürfen an kosten- losen öffentlichen Anlässen gratis gezeigt werden, selbst auf Grossleinwänden in Städten ohne WM-Status. Und fernab der Stadien, in denen die amerikanischen Sponsoren Coca-Cola, Anheuser-Busch (Budweiser) und McDonald's die Zuschauer verpflegen, darf der Fan an den WM-Partys in den Innenstädten essen und trinken, was er will.
Dies ist die Alternative für die frust-rierten Fans ohne Karten. Die Stimmung in Deutschland wird in den 30 Tagen zwischen dem Eröffnungsspiel am 9. Juni und dem Final am 9. Juli von Fussball geprägt und gigantisch sein. Viele Fans dürften ohne Eintrittskarten ins WM-Land reisen. Während sich die Elite von der Loge im Stadion aus die WM anschaut, finden die Fuss-ballfeste in den Städten statt.
Nur der omnipräsente fette Löwe Goleo, der stört weiterhin.
Tickettipps
Eintrittskarten sind kaum mehr erhältlich, doch es gibt verschiedene Arten, die WM in Deutschland live zu erleben:
1 Die sicherste: Pauschalreise mit Travelclub. Doch Obacht: Preis/ Leistung scheren weit auseinander.
2 Die ungewisseste: Am 12. Dezem- ber kommen auf fifa.com weitere 300 000 Tickets in den Verkauf.
3 Die exklusivste: ISE-Hospitality in Zürich bietet Logen an - ab beschei- denen 3500 Franken pro Spiel.
4 Die günstigste: Volunteer werden, freiwilliger Helfer. Meist ausserhalb des Stadions im Einsatz.
5 Die Alternative: Ohne Tickets anreisen und sich die WM in einer Stadt auf Grossleinwand ansehen.
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